Sci-Fi-Kurzgeschichten-Serie „Sub Liminal“

Die letzten auf diesem Blog veröffentlichten Kurzgeschichten sind Teil einer Reihe / Serie, die sich mit dem Thema Wahrnehmung und Manipulation von Wahrnehmung in einem Setting mit hochentwickelter AR und VR – Technologie beschäftigt. Dabei spielen die Storys locker im selben Universum, beziehen sich mitunter auf vorangegangene Geschichten und sollen in Zukunft auch Charaktere wiederkehren lassen.

Damit man dies leichter nachvollziehen kann, hier eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Kurzgeschichten:

  1. „Erwachen“: Eine Gruppe von ferngesteuerten Drohnenarbeitern wird durch Polit-Aktivisten befreit, obwohl nicht jeder diese Befreiung auch schätzt

2. „Die Musik der Unendlichkeit“: Eine KI lernt, wie man „gute Musik“ komponiert und stellt dabei fest, dass hinter dieser Aufgabe mehr steckt als zuerst gedacht.

3. „Spuren im Wald“: Ein Einsatztrupp der Polizei soll in einem toten Wald untergetauchte Terroristen jagen. Der Zugriff gerät jedoch zu einer Kakaphonie tödlicher Katastrophen.

4. „Herr Weber geht aufs Ganze“: Ein Privatdetektiv alter Schule will eine Verdächtige in einem Casino stellen. Allerdings verbergen sich alle Besucher hinter virtuellen Masken, die er nicht durchdringen kann.

5. „Ins kalte Wasser“: Ein Bergretter mit PTBS nach einem gescheiterten Einsatz wird mit modernsten Methoden behandelt. Dann klammern sich verschüttete Erinnerungen an ihn.

Texte zum Download

Story 1: „Erwachen“ als PDF

Story 1: „Erwachen“ als ePub

Story 2: „Die Musik der Unendlichkeit“ als PDF

Story 2: „Die Musik der Unendlichkeit“ als ePub

Story 3: „Spuren im Wald“ als PDF

Story 3: „Spuren im Wald“ als ePub

Story 4: „Herr Weber geht aufs Ganze“ als PDF

Story 4: „Herr Weber geht aufs Ganze“ als ePub

Story 5: „Ins kalte Wasser“ als PDF

Story 5: „Ins kalte Wasser“ als ePub

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„utilitarian Jesus“


Kurzgeschichte von Christoph Dolge

CN: Machtlosigkeit, Folter

Vor dem Hangmans Diner, fünf Minuten außerhalb von Santa Fe, hatten sich die üblichen Gestalten versammelt. Die meisten von ihnen waren männliche Latinos, aber wie um eine Diversity-Checkliste abzuhaken, waren auch ein paar andere Minderheiten und sogar zwei Frauen dazugewürfelt. Der Schwarzarbeiterstrich zog alle an, die nicht weiß und männlich waren und trotzdem eine Familie zu versorgen hatten.
So auch Jesús Francisco Aspe Martínez. Wem die vier traditionell mexikanischen Namen zu viel waren, behalf sich einfach mit seinem Spitznamen „El Cruz“. Sowohl als Anspielung auf seinen ersten Vornamen als auch auf die breiten Schultern gemeint ging ihm diese Bezeichnung rasch auf den Geist. Leider hatte er in dieser Beziehung wenig Mitspracherecht, weshalb er sich neuen US-Bekanntschaften stets mit Jesús Aspe vorstellte, um sie nicht zu überfordern und zu vermeiden, das unbeliebte El Cruz zu strapazieren.
So auch diesmal. Ein wüstenstaubiger Ford Explorer war vorgefahren. Der Fahrer gestikulierte aus dem Fenster und rief „Carpintero“, Zimmermann, womit er bei den Latinos bereits massig Punkte sammelte. Jesús wollte sich nicht auf weitere Spanischkenntnisse des Gringos verlassen und zeigte mit den üblichen Hand- und Fingerzeichen seinen Stundenlohn an – genau wie die anderen Arbeiter. Irgendwas an ihm schien den Lenker des Fords überzeugt zu haben, denn dieser deutete mit dem Zeigefinger entschieden auf ihn und winkte Jesús dann ins Fahrzeug.
Nachdem er seinen Rucksack und die Werkzeugtasche mit seiner persönlichen Ausrüstung im Heck verstaut hatte, stieg er auf den Beifahrersitz und döste, während der Fahrer ihn wortlos zum Ziel beförderte. Große Ansprachen oder architektonische Entwürfe waren in der Regel nicht zu erwarten und wären bei den meisten Arbeitern ohnehin an mangelnden Englischkenntnissen gescheitert. Man pflanzte sie irgendwo hin, drückte ihnen eine Zeichnung in die Hand oder unterstellte sie einem erfahrenen Vorarbeiter, der sie einwies.
Diesmal jedoch ging es nicht direkt auf eine Baustelle in den Wohnsiedlungsmetastasen der Stadt, sondern in eine Gated Community, die Jesús völlig unbekannt war. Die zwei Sicherheitskräfte am Tor machten ordentlich Eindruck auf ihn: Das waren keine beliebigen Ex-Cops oder Veteranen, die nach einer Tour im Irak keinen anderen Job gefunden hatten. Er erkannte das weniger an ihrer Montur und Ausrüstung, sondern an einer kühlen Ausstrahlung. Jedem in Sichtweite war signalisiert, dass diese Leute alles unter Kontrolle hatten. Und falls sich an diesem Zustand etwas änderte, wären sie bereit, jedes Mittel zu ergreifen, um den Ursprungsstatus wieder herbeizuführen.
Im Grunde war diese abgetrennte Gemeinschaft auch nur die Luxusversion der Vororte, in denen er sonst arbeitete. Die Gärten üppiger, die Bewässerung sorgloser, die Villen größer und Männer wie Frauen im Durchschnitt etwas hochpreisiger schönoperiert. Die Fassade des Lebens war hier etwas teurer, weil sie den Statuskonsum einer anderen Klasse repräsentierte.
Und trotzdem griff man auch hier gern auf die besonders preisgünstigen Dienste mexikanischer Schwarzarbeiter zurück. Ich hab es einfach drauf. Deswegen wollen sie mich., beruhigte sich Jesús selbst.
Die Fahrt endete vor einer besonders futuristisch anmutenden Mischung aus Mittlerer-Westen-Farmidylle und Star Trek. Der Fahrer hielt wortlos an und öffnete per Knopfdruck die Tür und ließ seinen Gast ohne weitere Instruktionen aussteigen. Dann fuhr er davon.
Eine Art selbstfahrender Fernseher auf dem Gestell eines Segways begrüßte ihn.
„Bitte folgen Sie mir. Sie werden drinnen erwartet.“, erklärte die synthetische Stimme des seltsamen Gefährts. Auf dem Bildschirm gab es nur ein stilisiertes Gesicht zu sehen, das wohl aufmunternd lächelte. Jesús fragte sich, ob er irgendwelche Internet-, Technik- oder Filmreferenzen nicht kannte, auf die das Konstrukt anspielte. War das ein Youtube-Prank? Oder fand es irgendwer wirklich angemessen, ihn von einem solchen Roboter abholen zu lassen?
Auf dem Weg ins Haus bemühte er sich, ein wenig Smalltalk mit der Maschine anzubändeln, doch seine Fragen zur Arbeit und Kommentare zur Qualität des Rasens und der ausgefallenen Bepflanzung prallten vom Plastikgehäuse unerwidert ab.
Das Innere des Gebäudes setzte die äußere Ästhetik gekonnt fort: Weiße Wandpaneele mit LED-Lichtstreifen hinter Glas erschufen den Eindruck, man befände sich nicht mehr in einem Neureichenviertel in Santa Fe, sondern auf einer Raumstation der Zukunft. Das Gefährt, Jesús immer noch im Schlepptau, rollte wortlos durch einen Korridor, bis es einen schlichten Raum erreichte, in dem sich nur ein bequemer Chefsessel sowie ein Kaffeetisch mit einem Tablett voller Knabbereien und Getränke befand.
„Machen Sie es sich bequem. Mr. Newman wird gleich hier sein. Er erklärt dann alles Weitere.“
So langsam sah das nicht mehr nach einem Job für einen Zimmermann aus. Eventuell würde er nachverhandeln müssen, aber solange hier niemand Schweinkram mit ihm veranstalten wollte, war er sich für keine Arbeit zu schade. Also nahm Jesús Platz, warf ein paar Cheetos ein und trank vorgekühlte Coke.
Dann endlich trat ein Anzugträger ein, dessen Gesicht Jesús bereits eine Sekunde nach dem Betrachten wieder vergessen hatte, so nichtssagend war es. Er hatte, während der Mann sprach, sogar Probleme, sich auf ihn zu konzentrieren, es war, als glitte jedes Interesse an ihm von seiner Haut ab und würde im Raum zerstreut.
„Ich grüße Sie! Ich bin ich hocherfreut, dass Mr. Romano sie gefunden und hergebracht hat. Ich kann wohl stolz sagen, dass er nicht nur als Fahrer und Pilates-Trainer taugt, sondern auch eine hervorragende Menschenkenntnis besitzt.“
„Hallo.“, sagte Jesús. „Was soll ich machen?“
„Ich mag Menschen, die direkt zum Punkt kommen. Ich werde sie deswegen nicht länger auf die Folter spannen, hahaha.“
Beginnt der Typ jeden Satz mit „Ich …“?
„Ich habe auch einige Freunde eingeladen, für die Ihre Arbeit ebenso wichtig sein wird wie für mich.“
Auf einen Fingerzeig öffnete sich die zweite Tür des Raumes. Es traten weitere Männer ein, die allesamt einem ähnlichen Menschenschlag anzugehören schienen wie dieser Newman. Wenigstens ihr Kleidungsstil zeugte dann doch von ein wenig Individualität: Einer trat gewollt leger auf, mit Shorts und Haiwaii-Hemd, ein anderer war noch straffer in den Anzug gewickelt als sein Gastgeber. Sie alle musterten Jesús mit einem distanzierten aber seltsam gierigen Blick. Die unterschwellige Aura, die sich im Raum ausbreitete, war nicht lüstern, wirkte auch nicht aggressiv wie bei Raubtieren. Dennoch war spätestens jetzt klar, dass man hier mehr von ihm erwartete als den behänden Einsatz einer Nagelpistole.
„Hi!“, bemühte sich Jesús ein Lächeln ab und trank einen Schluck Coke, als wäre er die coolste Person im Raum. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass das vermutlich sogar zutraf. Die anderen wären gern cool, vielleicht sogar flippig, waren aber ihr ganzes Leben daran gescheitert. Dennoch wirkten sie alle unheimlich relevant.
„Ay dios mío!“, entfuhr es ihm, als er einen der Typen erkannte. Allan Odor, ein Gesicht, dem man kaum entkam, weil sein Besitzer sich bemühte, es mit einer eigenen News-Seite, als Besucher zweifelhafter Podcasts und Vertreter seiner Hightech-Firmen in jede Kamera zu halten, die zur Verfügung stand. Auch einer der anderen Männer kam ihm plötzlich bekannt vor. War das der Besitzer von MyPorn? Oder hatte er letztens dieses U-Boot versenkt? Na das kann lustig werden. Ich bin umgeben von Tech-Milliardären!
„Wir wären sehr dankbar, wenn Sie unser kleines Projekt hier nicht verraten würden.“, erklärte Newman und hielt sich demonstrativ den Zeigefinger vor die Lippen.
Jesús nickte benommen.
„Ich komme nun zu Ihrem Auftrag: Wir haben ehrlich gesagt ein wenig geflunkert. Wir brauchen nicht wirklich einen Zimmermann. Stattdessen suchen wir einen Tester für eine neue Technologie. Eine Erfindung mit atemberaubenden Möglichkeiten!“
Darauf fiel Jesús auch keine kluge Antwort ein. Der Schock, mit so viel Geld in einem Raum vereint zu sitzen, war ihm tief in die Glieder gefahren. Erneut nickte er.
„Ich möchte auch finanzielle Sorgen gern zerstreuen. Ihre Entschädigung wird weit über den branchenüblichen Löhnen liegen, die Schwarzarbeiter sonst erhalten. Wir dachten an das Zehnfache. Wie viel ist das?“
Die Aussicht, noch mehr zu verdienen, löste schlagartig seine Zunge. Jesús nannte einen völlig irren Betrag, deutlich mehr als das Zehnfache dessen, was er sonst bekam. Er machte sich darauf gefasst, hart zu verhandeln, um das Beste herauszuschlagen.
Doch Newman klatschte einfach fröhlich in die Hände und rief: „Ich liebe es! Hervorragend. Freut mich, das so schnell geklärt zu haben.“
Er tippte auf seinem Smartphone herum, dann öffnete sich erneut die Tür und der Robot-Diener erschien, diesmal mit einem Paket, das auf einem kleinen Sockel seines Chassis stand.
Die weiße Designschachtel mit leicht abgerundeten Kanten und Ecken versprach einen hochwertigen Inhalt. Wollte man ihn als „Mann von der Straße“ zu einem neuen Gerät befragen? Durfte er das neue MyPhone ausprobieren oder irgendeinen anderen abgefahrenen Schnickschnack?
Newman holte ein flexibles Band aus der Kiste. Zwei Finger breit, schwarz, mit Noppen und Kabeln und einem teuren Markenlogo.
„Ziehen Sie das bitte auf den Kopf, so dass dieser Teil hier auf Ihrer Stirn sitzt.“, erklärte er und reicht Jesús das Gerät.
Auch sich selbst stülpte der Superreiche ein solches Ding über und verteilte identische Modelle an die anderen Anwesenden. Diesen schien das Aussehen des Gerätes genauso neu wie Jesús. Sie begutachteten die Stücke von allen Seiten, machten kluge Anmerkungen zum Design, der Wahl der Farbe und dem Material des Gummizugs, der die Bänder an ihren Schädel presste.
„So, nun kann es im Grunde schon beginnen.“, freute sich Newman.
„Was?“
„Ah, richtig. Natürlich erkläre ich die Funktion, bevor wir anfangen.“ Er atmete tief durch und blickte seine Testperson erwartungsvoll an. Jesús spürte, dass er irgendetwas beitragen musste, und bekam ein: „Klar.“, heraus.
Einer der anderen Männer trat nach vorn und fuhr sich durch das etwas wirr vom Kopf abstehende Haar. Ohne sich weiter vorzustellen, begann er: „Die Frage, die wir uns stellen und nach der wir unser ganzes Leben ausrichten, ist immer: Wie kann ich Gutes tun? Was ist gutes Handeln? Wie unterscheidet sich eine gute Tat von einer schlechten? Darüber haben sich viele Philosophen schon seit tausenden von Jahren den Kopf zerbrochen.“
Er ging auf und ab und gestikulierte, als würde er nicht nur für Jesús einen kleinen Privatvortrag halten, sondern als befände er sich auf der Bühne einer großen Tech-Präsentation oder eines TED-Talks.
„Eine der Lösungen, zu der man gekommen ist, sagt: Gutes Handeln verbessert das Leben möglichst vieler Menschen. Es ist Mathematik. Nicht immer lässt sich Schaden vermeiden und manche Entscheidungen führen dazu, dass einige wenige leiden, während es dem großen Teil der Leute besser geht.“
Soweit konnte Jesús folgen. Die Englisch-Abendkurse machten sich wirklich bezahlt, vor allem, wenn diese Nerds endlich mit ihrem Experiment fertig waren und ihm seinen Lohn in die Hand drückten. Also nickte und lächelte er weiterhin und strahlte Zuversicht, Verständnis und Wohlwollen aus. Zumindest hoffte er, dass das die Reaktion war, die sein Gegenüber erzielen wollte.
Kurz hatte er den Faden verloren, denn der Mann sprach natürlich unbeirrt weiter: „… Opfer in diesem Nettospiel erbringen. Longtermism ist die Philosophie, die sagt, dass heutige Bedingungen auch schwer sein können, wenn sie durch technischen Fortschritt in Zukunft das Leben verbessern. Deswegen zielen wir auch darauf ab, so wenig wie möglich Steuern zu zahlen, um unser Kapital wieder investieren zu können. Zukünftige User profitieren dann von den Gewinnen und dem technischen Nutzen unserer Produkte!“
Es folgten einige noch esoterischere Standpunkte, die auf eines hinausliefen: Die Tech-Konzerne sollten ihre Besitzer so reich wie möglich machen, damit diese dann als Wohltäter zukünftiger Bevölkerungsscharen auftrumpfen konnten. Und da die Zahl zukünftiger Erdlinge – projiziert auf die nächsten tausend Jahre – die der aktuellen Menschheit um ein Erhebliches vielfach überwog, konnte man den Leuten jetzt alles zumuten, solange es nur dazu geschah, eine hypothetische hedonistische Zukunftsgesellschaft zu fördern.
Als Jesús von Wahrscheinlichkeitsrechnung und dem gegeneinander Aufrechnen von tatsächlichen und potenziellen Individuen und ihrem Leid und Wohlstand der Kopf zu schwirren begann, unterbrach Newman den Vortrag mit einer sanften Geste.
„Ich glaube, wir fassen das mal so zusammen: Das wichtigste für das Maximieren des globalen Glücks ist das Minimieren des globalen Leids. Wir eliminieren alle Faktoren, die dafür sorgen, dass Menschen sich schlecht fühlen. Meiner Meinung nach klingt das logisch, oder?“
„Qué?“, stolperte es von Jesús‘ Zunge, doch dann riss er sich zusammen und sagte: „Klar. Ganz logisch.“
„Ich würde sagen: Dann mal los.“, beschwor der Technologiefürst die Runde und drückte theatralisch auf einen Knopf. Natürlich hatte niemand irgendetwas erklärt. Was hatte der seltsame Kopfschmuck mit dem globalen Glück zu tun? Wollten sie die Bevölkerung einfach hypnotisieren, sich gut zu fühlen?
Irgendetwas daran passte so ganz und gar nicht, denn auf einmal durchfuhr Jesús ein kalter Schauer. Er wurde misstrauisch und schaute in die vor Freude glänzenden Augen der Anwesenden.
„Ich sehe, sie spüren es bereits, nicht wahr?“, gluckste Newman. „Diese Geräte maximieren das Glück aktuell nur für die Personen in diesem Raum. Aber man kann schon spüren, wie gut es funktioniert!“
Mit einem Mal stach es in Jesús rechter Hand, ein Krampf, ein Nervenschock, der bis in den Ellbogen zog. Er sah, wie der Typ, der den Philosophie-Vortrag verbrochen hat, seine eigene Hand wiederum bewundernd anblickte und sie öffnete und schloss, als wäre diese Bewegung vorher unmöglich gewesen.
Nun stürzten auch Gefühle auf ihn ein. Eine wütende Scham, als wäre vor der ganzen Welt jede einzelne seiner körperlichen und geistigen Unzulänglichkeiten deutlich sichtbar zutage getreten. Als wäre er nackt und aussätzig, mit der Gewissheit, all die Verachtung anderer zutiefst verdient zu haben.
Wellen weiterer Emotionen brandeten auf ihn ein. Schlechtes Gewissen brannte neben der Angst, alles, was er aufgebaut hatte und besaß, zu verlieren. Performance-Zwang, Mutterkomplexe und all die anderen kleinen Neurosen und Macken, die so viele Menschen tief in sich verbargen.
Die reichen Männer dagegen streckten sich und schienen vor Selbstbewusstsein und befreiter Männlichkeit von innen heraus zu glühen. Einer schlug sich lachend auf die Schenkel, während ein anderer wie wild Selfies mit dem Smartphone schoss und sich dafür in die wildesten Posen warf. Sie waren von einer übernatürlichen Euphorie erfüllt.
„Das ist das Wunder, das wir uns erhofften!“ Newman frohlockte. „Jede mentale Belastung, mit der wir uns herumschlagen müssen, wird von diesen Bändern erfasst. Es ist wirklich schlimm. Aber keine Sorge, das ist keine Gedankenlese-Maschine. So weit sind wir längst noch nicht. Aber wir können negative Erfahrungen sehr gut von dem trennen, was uns glücklich macht. Statt also echte Inhalte zu transferieren, übertragen wir nur die unangenehme Bewertung und den Stress, der von ihnen ausgeht. Auf Sie! Haha!“
Am liebsten wäre Jesús aufgestanden und einfach fortgerannt. Doch die lähmende Kraft all der Traumata und inneren Qual, die seinem Geist aus gleich mehreren fremden Quellen aufgelastet wurde, war überwältigend. Er konnte nur still dasitzen und leiden.
„Wenn Sie Schmerzen empfinden, dann ist das leider eine kleine Nebenwirkung, die unsere Entwicklungsabteilung noch nicht ganz ausgemerzt bekommen hat. Uns ging es primär um negative Emotionen. Aber im Grunde ist das auch egal, denn auch Schmerz erzeugt Leid – und wenn wir das auf einen freiwilligen Träger abgeben können, trägt das nur zu unserem Glück bei. Nicht wahr, meine Freunde?“
Wahrscheinlich waren sich die Anwesenden noch nie so einig wie in diesem Augenblick. Sie klopften sich gegenseitig auf die Schultern.
„Nachher müssten Sie dann noch ein paar Fragebögen zu Ihren Erfahrungen mit dem Gerät ausfüllen, aber dann ist das Geld schon Ihres.“
Wie ein Achtzigjähriger kurz nach dem Schlaganfall konnte Jesús gar nicht mehr widersprechen. Auch die Aussicht, gut bezahlt zu werden, entlastete ihn kein bisschen. Am schlimmsten war unter dem ganzen Ansturm deprimierender und zersetzender Eindrücke die unterschwellige Selbsterkenntnis, er würde all dies tatsächlich verdienen. Er hatte das Gefühl, dass ihm ein bisschen Sabber aus dem Mundwinkel lief. Die Reichen in ihrem Jubel nahmen daran jedoch keinen Anstoß.
Wieder an seine Nerd-Kumpels gerichtet erklärte Newman: „Dieser Tag wird als wegweisend für die Zukunft in die Geschichtsbücher eingehen! Stellt euch vor, wie wir allein unsere Produktivität steigern können, wenn wir unser Gewissen, Scham und all die anderen Hindernisse einfach an Jesús outsourcen. Mir schwebt aktuell ein Anlegersystem vor, mit dem wir uns sparen, Dividenden auszuschütten. Stattdessen teilen wir einfach ein bisschen Glück mit den Investoren. Und langfristig skaliert die Technologie natürlich hervorragend. Mir schweben schon ausführliche Grenzwertstudien vor, in denen wir ermitteln, wie viele Personen den negativen Ballast aufnehmen müssen. Je geringer ihre Zahl, desto besser für das Nettoglück.“
Ein anderer stieg ein und jubilierte: „Ein Hoch auf die hedonistische Bilanz!“
Wieder ein anderer: „Jetzt müssen wir den Zugewinn an Lebensqualität nur noch messbar machen. Die Leute sollen ja erfahren, wie viel Gutes wir für sie tun.“
„Klar. Und selbst wenn die Geräte so teuer bleiben wie jetzt – wenn sich für ein sorgfältig auserwähltes Prozent der Bevölkerung spürbar etwas bessert, ist ja im Mittel jedem geholfen!“
Das war der Punkt, in dem Jesús in gnädiger Bewusstlosigkeit versank.

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„Der Sultan ist tot, es lebe der Sultan“

Kurzgeschichte von Christoph Dolge

CN: Tod, Diktatur, Gewalt

„Er ist tot! Der Bastard ist tot!“
Abdul Ahad hatte seine Zweitfrau am Telefon, seine Vertraute, mit der er jeden persönlichen Triumph, alle Sorgen und sogar bittere Niederlagen teilte. Doch für schlechte Nachrichten war dies nicht die Zeit – ganz im Gegenteil.
„Wer denn?“
„Al Mamba natürlich! Ich habe es von Karim gehört. Eine Bombe. Hat ihn erwischt, als er seine Kamele besuchte. Sein Liebling Sheila brauchte wieder ein Lifting, da musste seine Majestät Hassun al Mamba natürlich höchstpersönlich überprüfen, wie die Operation verlaufen ist.“
„Wer liftet denn Kamele?“
„Was weiß ich denn. Hörst du mir nicht zu? Sie haben den Sultan ermordet, ich bin frei!“
Jetzt erst schien die Nachricht bei Fida anzukommen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, dessen emotionale Zusammensetzung Abdul Ahad nicht genau zu entschlüsseln vermochte. Freude? Schock? Sie würde dem Tyrann doch hoffentlich nicht nachtrauern?
„Was passiert jetzt mit dir?“, wollte sie wissen.
Er atmete tief durch und schluckte einen sandtrockenen Kloß Speichel herunter.
„Ganz genau weiß ich das natürlich nicht. Wahrscheinlich gibt es Pläne, wie man jetzt verfahren wird. Aber wer sollte jetzt noch einen Doppelgänger des Sultans brauchen? Ich muss mich nicht mehr für den alten Sklavenschinder in Gefahr begeben! Seine Vorkoster werden sicher auch jubeln.“
„Allah sei gepriesen! Beten wir dafür, dass du in Frieden leben darfst und der Nachfolger des Sultans seinem Volk besser dient als dieser gesprengte Kamelschänder.“
„Ach, Liebling, tausendfach strahlende Sonne. Du sollst nicht fluchen, das steht einer Frau nicht zu. Fühl dich geküsst, ich muss jetzt weitere Freunde anrufen!“
Nachdem er aufgelegt hatte, überlegte er, mit wem er die guten Nachrichten als Nächstes teilen sollte. Für einen Moment hielt Abdul Ahad inne und warf einen Blick aus dem Fenster seines Appartments. Die intensiv bewässerten Grünanlagen der Siedlung schienen seine Zuversicht zu teilen und strahlten in lebendiger Pracht. Selbst die Wüste, die etwa zehn Meter hinter der letzten Hecke begann, flimmerte aufgeregt in der Mittagssonne und wollte ihn locken: Lass das komplizierte Leben hinter dir und folge den Pfaden deiner Ahnen. Werde Kaufmann wie dein Vater und reise um die Welt! Du musst nicht mehr auf dem Rücken von Pferden oder Kamelen durch die Einöde schaukeln. Mit deinen Erfahrungen ist sicher ein angenehmes Jetset-Leben möglich!
Als Doppelgänger des Sultans war er kaum in der Lage gewesen, eigene Entscheidungen zu treffen. Er musste sich mit wenigen Vertrauten umgeben und selbst seine Familie stand unter strenger Bewachung, damit niemand sein gefährliches Geheimnis ausplauderte.
Er löste sich wieder von der Träumerei und schaltete die Nachrichten an. Ob Al Jazeera bereits berichtete? Oder hielt der Nachrichtendienst noch einen Schleier über dem Tod des Führers?
Die Sprecherin erläuterte soeben Bilder einer OPEC-Konferenz und wies auf lokale Spannungen und deren Auswirkungen auf den Ölpreis hin. Ha, wie die sich alle umschauen würden, wenn sie erfuhren, dass der Blutsultan hinüber ist! Abdul Ahad machte sich keine Illusionen, dass der nächste Führer dem Land mehr Frieden oder den Teilen der Bevölkerung, die nicht seiner eigenen Großfamilie angehörte, Wohlstand brächte.
Wer war nun an der Reihe? Ah, sein Bruder! Rasch betätigte er den Wahlbutton auf seinem Handy. Hinter vorgehaltener Hand hatten sie sich schon oft über die Ungerechtigkeit und Brutalität von al Mamba unterhalten. Nun war es an der Zeit, offen zu sprechen!
Als dieser den Anruf annahm, ließ Abdul Ahad ihn gar nicht zu Wort kommen, sondern bestürmte ihn: „Wir müssen ein großes Fest ausrichten! Allah hat einen bösen Mann zu sich genommen und mir die Freiheit geschenkt.“
Sie berieten sich und planten Details der Feier, schwelgten in Zukunftsplänen und träumten von einer besseren Welt.
Dies wurde jäh unterbrochen, als bewaffnete Soldaten in den Raum stürmten. Ein älterer Nachrichtendienstoffizier, der für das Management der Doppelgänger zuständig war und den Abdul Ahad schon von früheren Begegnungen kannte, packte ihn am Arm.
„Was soll das?“, quiekte er.
„Du musst mitkommen. Unser großartiger Führer wurde Opfer eines Attentats.“
„Und wozu braucht ihr dann mich? Soll ich seine Stelle einnehmen? Die Fassade aufrecht erhalten? Begreift doch, wie wenig das jetzt noch zählt! Wenn erst …“
„Maul halten.“, fuhr der Agent ihm ins Wort. „Der Sultan hat den Anschlag überlebt.“
Abdul Ahad wurde bleich. Also doch kein Entkommen. Die Gefahr war im Gegensatz noch gewachsen.
„Ganz recht. Die Doppelgänger sind weiterhin im Dienst. Heute Nachmittag gibt es eine Presseerklärung zu dem Vorfall. Seine Majestät wird selbst vom Krankenbett im Klinikbunker aus zu seinem Volk sprechen.
„Er selbst? Aber wozu braucht ihr dann mich?“
„Er hat überlebt. Aber die Ärzte konnten nicht alles retten. Er hat das linke Auge, den linken Arm und das linke Bein verloren. Großflächige Verbrennungen. Du verstehst doch, dass du so nicht weiter als sein Doppelgänger arbeiten kannst.“
Das löste die Verwirrung keinesfalls auf. Abdul Ahad glaubte kaum, den Offizier von irgendwelchen Plänen abbringen zu können, aber dennoch versuchte er noch einmal: „Dann lass mich doch einfach gehen.“
„Du wirst nicht entlassen. Du kommst mit. Wir passen dich dem Sultan nur an.“

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Scheibletten mit Hexenstich

Diese Kurzgeschichte entstand für die Ausschreibung „Das Leuchten der Schweinwerfer“ des ohneohren-Verlags. Ziel war, einen sinnentstellenden Tippfehler/ Buchstabenverdreher zu nehmen und daraus eine phantastische Geschichte zu konstruieren. Der hier verwendete Fehler lautet „er bestimmt die Nähwerte von Lebensmitteln“ („Näh“ statt „Nähr“). Leider hat sie es nicht in die finale Auswahl geschafft. Dennoch will ich sie euch nicht vorenthalten!

CN: Rollstuhl, Behinderung, Essen/ Lebensmittel

Der Alltag als Laborwichtel war für Cordo immer schon beschwerlich. Doch seitdem aufständige Elfen ausgerechnet den Durchgang gespeert hatten, den er auf dem Weg ins Archiv nutzen wollte, hatten sich die Probleme vervielfacht. Was nützte Heilzauberei, die narbenlose Regeneration versprach, wenn das verfluchte Bruchstück einer Speerspitze zwischen zweien seiner Wirbel gefangen blieb? Nun also, seit mittlerweile fünf Jahren, konnte er seine Beine nicht mehr benutzen und blieb wohl für immer auf den Rollstuhl angewiesen.

„Dämliches Komponistenpack! Sind nur zu faul, ordentlich zu arbeiten.“, grollte er, während er sich anzog und davon träumte, den Fiedlern ordentlich die Meinung zu geigen. Die meisten ihrer Taten waren jedoch im Rahmen einer Generalamnesie in Vergessenheit geraten, sodass man sie nie zur Rechenschaft ziehen konnte.

Zumindest war sein Arbeitsweg nicht von weiteren Schwierigkeiten bedrängt. Publikumsverkehr musste er ebenfalls nicht befürchten, denn im großen Hörsaal lockte an diesem Tag ein Seminar mit dem Titel „Freihändiges Schminken im Selbstversuch – Öffentliche Verunstaltung“. Die Opfer dieses Zeitvertreibs dürften Besseres zu tun haben, als ihn auch noch im Labor zu behelligen.

Trotzdem war es auffällig still, als er die letzte Rampe erklommen hatte und an der Tür zum Experimentarium ankam. An der Tür hing ein Leinenbeutel. Verdächtig prall und schwer, dazu noch eine Notiz: „Cordo, bin heute auswärtig, bitte bestimm schonmal die Nähwerte dieser Lebensmittel, Viel Spaß, Dr. Klawutt“.

„Lieber auswärtig als widerwärtig!“, witzelte der Wichtigel und knotete vorsichtig die Trageschlaufen auf. Er begutachtete das Sammelsurium an Esswaren, das sich ihm im Inneren der Tasche offenbarte. Seine haarigen Finger schoben seltsam verpackte Quader und Säckchen beiseite, pulten kurz an der Wachsschicht eines Achtellaibs Käse und glitten dann über die Haut einer prallwürzigen Knackwurst. War sein Chef ins Schlaraffenland eingebrochen?

Dennoch waren weder die Art der Übermittlung noch der Auftrag an sich etwas Ungewöhnliches. Als vorbildlicher Laborant war er in der Lage, die unterschiedlichsten Geräte zu bedienen und qualifizierte Messungen vorzunehmen. Besonders stolz war er darauf, sich nicht mit Gedanken darüber abzugeben, wofür seine Arbeit eigentlich verwendet wurde.

Der Anählysator war in einem Nebentrakt des Zentrallabors untergebracht. Cordo klemmte den Beutel auf seinen Schoß und machte sich auf den Weg. Bevor er jedoch am Ziel ankam, geriet ihm beinahe Saff unter die Räder. Seine Kollegin schoss ohne Vorwarnung aus ihrem Büro, verlor vor Schreck das Übergewicht und purzelte quer zu Boden.

„Uff, au!“, schimpfte sie, während sie hastig die heruntergefallenen Pfunde wieder einsammelte.

„Heißa!“, freute sich Cordo, denn er hatte schon seit langer Zeit einen Gefallen an der kecken Gnomin gefunden, auch wenn sie immer wieder tapsig ins Chaos segelte.

„Öh. Cordo! Ich soll dir heute helfen. Doktor Klawutt hat mir eine Liste mit Garnen, Fäden und Spindelware gegeben, die ich besorgen muss, dann treffen wir uns in der Zwirnkammer.“

„Hey, super! Ich bereite die Geräte vor, dann geht nachher alles schneller und wir können uns hinterher noch ein Softeis mit Koksraspeln gönnen.“

Wurde Saff etwa rot? Cordo war im Eifer des Gefechts mit diesem kühlen Plan hervorgeplatzt und jetzt mächtig stolz darauf, dass er sich getraut hatte, die süße Kollegin auf ein Eis einzuladen.

„Aber bitte nur das Softeis, sonst kann ich wieder nicht schlafen!“, grinste die junge Laborhelferin. Dann hatte sie sich wieder beisammen und stürmte davon, wahrscheinlich ins Schnurarchiv.

Kurz darauf schob Cordo die Tür der Zwirnkammer hinter sich zu, legte den Schalter am großen Anählyseturm in der Mitte des Raumes um und wuchtete den Beutel auf den Labortisch. Sorgfältig kontrollierte er die beigefügte Liste und glich sie mit den Zutaten ab, die er auspackte.

„Na dann mal sehen.“

Wie vernäht man Lebensmittel? Zuerst galt es, möglichst dünne Scheiben schneiden. Womit ging das einfacher als mit dem einseitig geschliffenen Mithrilmesser? Die ostzwergischen Messerschürfer hatten damit ein Wunder aus dem Berg gewaschen: Es glitt widerstandslos durch Schinken und Käse und produzierte wohlgeformte flache Stücke. Doch noch mehr Spaß machte es, Rüben und Gurken am Wickel zu packen und sie nach aller Kunst abzuspulen. Dabei kam es darauf an, ihnen ohne abzusetzen einen Schälschnitt zu verpassen und den dann im Kreis immer weiter fortzuführen. Dabei verwandelte sich das Gemüse in ein langes flaches Band, durch welches man im Gegenlicht hindurchschauen konnte.

Für einige besonders anspruchsvolle Messungen schließlich spannte Cordo die Proben in eine Drehbank und ließ ein breites Messer einen exakt programmierten Furnierspan abnehmen. Der Schinken erwies sich bei dieser Prozedur als besonders widerspenstig, doch zum Glück hatte Dr. Klawutt genug Verschnitt eingeplant.

Der Anählysator – das war jenes Gerät, welches den Großteil des Raumes einnahm – war inzwischen warmgelaufen. Er tuckerte zufrieden vor sich hin und wartete geduldig, während Cordo für einen Probelauf einfaches Standard-Garn No. 120 mit dreifach gezwirntem Faden einlegte und in die Nadel fädelte. Dann testete er die ersten Stiche an einer Scheiblette.

Zack, der Käse wurde durch die Fadenspannung zusammengezogen, die Naht wölbte sich auf und nach wenigen Zentimetern franste der Rand aus.

„Na, das kann ja was werden!“, grummelte der Laborwichtel, dessen Laune sich aber sofort wieder hob, als Saff hereintanzte und ihm ein großes Sortiertablett voller Fäden brachte.

Während sie nun die Magazinfächer der Maschine mit den Spulen belud, programmierte Cordo das Ungetüm. Der Anählysator hatte mehr Gemeinsamkeiten mit einer sinistren Orgel denn einem feinjustierbaren Laborgerät: Eine Batterie Fußpedale erlaubte, rasch die Gänge und Stichweiten zu ändern. Hebel und Zugseile arrangierten den Nahtversatz und bewerkstelligten den Einsatz der Overlock- und Coverlocktechnik. Präzise Stellschrauben am Nähfuß gaben Zugriff auf die Schnittwinkel der Messer zum Versäubern der Naht. Damit er das Gerät trotz seiner unbeweglichen Beine benutzen konnte, war schon seit einiger Zeit eine Vorrichtung installiert worden, die er händisch bedienen konnte. Diese Brücke brachte er als letzten Schritt in Position.

Als die Garne geladen waren, sagte Saff die Reihenfolge der Stiche und die für die Anählyse notwendige Nahtzugabe an. Obwohl er schon so manches Produkt getestet und auch exotische Fäden und Stoffe untersucht hatte, schwirrte Cordo nach einiger Zeit der Kopf. Ein hastiger Blick auf seine Uhr verriet, dass er den Aufwand unterschätzt hatte: „Das Eisschlecken können wir uns wahrscheinlich abschminken.“

Saff, die sich üppig nach vorn beugte, um einen widerspenstigen Zwirn in die Laufringe einzureihen und Cordo dabei einen wunderbaren Ausblick bot, warf ihm einen enttäuschten Blick zu. „Aber wir haben das Labor für uns, weil Dr. Klawutt erst morgen wiederkommt. Hast du heute Abend noch was vor?“

Die forsche Art seiner Kollegin überrumpelte ihn derart, dass er fast ein Kästchen mit Ersatznadeln in die Maschine gekippt hätte. Zumindest hatte Cordo wohl die richtigen Signale gesendet – oder war Saff ganz von allein auf die Idee gekommen? Bloß nicht zu viel hinterfragen!

„Nö. Ich. Also. Klar. Dann ran ans Garn!“, stammelte er und war froh, sich in seinem Fachhandwerk versenken zu können. Trotzdem war Cordo sicher, dass seine Ohren und Wangen glühten, als wäre er ein kleiner Leuchtturm.

Gemeinsam machten sie sich ans Werk und gingen methodisch Lebensmittel für Lebensmittel durch, während sie Garn und Stichform variierten und sich jeweils die Ergebnisse notierten. Cordo nahm dabei den Anählysator in Beschlag und schob ein Teststück nach dem anderen hindurch. Saff wiederum entlud die fertig vernähten Teile und prüfte sie ausgiebig.

Immer mal wieder entfuhren ihr dabei erstaunte Kommentare: „Der Schinken ist wohl etwas zu lange gereift. Ich habe lange nicht mehr so starre Kappnaht gesehen.“, oder „Die Rübe mit Kreuzstich am Käse ist labberig, doch dieser Elfenhaar-Zwirn lässt selbst das wirklich schick aussehen. Aber ich wüsste nicht, ob ich so etwas tragen könnte.“, und schließlich „Meine Güte, die Reißfestigkeit von Gurke geht ja durch die Decke, wenn du sie im Steppstich anheftest. Die Gemüsepiraten von St. Rhubarb werden doppelt so schnell segeln wie zuvor!“

Die letzten Tests wollte Cordo selbst erledigen, doch von der ganzen Arbeit hatte er Hunger bekommen und bat seine Kameradin, inzwischen etwas aus der Kantine zu besorgen.

Er mahnte: „Aber keine Nudeln, die kann ich seit dem letzten Ramenbeschluss nicht mehr sehen.“

Als Saff zurückkam, trug sie ein so spitzbübisches Grinsen zur Schau, dass ihm ganz anders wurde. Hatte Sie etwa Teig dabei und wollte mit ihm die Nacht durchstanzen?

„Was hast du denn vor?“

„Wirst du schon sehen. Bist du bald fertig?“

Ein bisschen wehleidig schaute er auf die Notizen. Der Bericht ging auf seinen Buckel, daran ließ sich nichts rütteln. „Wird schon.“, murrte er und rollte mit dem Laborjournal ins Büro. „Bin bald wieder da!“

Noch nie waren ihm die Finger so über die Tastatur der Schreimaschine geflogen wie an diesem Nachmittag. Auch sein Gehörschutz legte eine Sonderschicht ein und übertraf sich selbst. Als Cordo schließlich die letzten Kommentare und besonderen Beobachtungen ausgeführt hatte, konnte er es kaum noch erwarten, zurück ins Labor zu eilen. Als grölenden Abschluss der Arbeit musste er die Zusammenfassung der Ergebnisse nur noch in die Kanone laden, denn sie waren wie immer strenge Verschusssache.

Dort hatte sich Saff ordentlich in Schale geworfen: Sie hatte sich mit Blättern vom Salatbuffet, Fadennudeln und Salamischeiben ein kunstvolles Kleid geschneidert. Sie sah buchstäblich zum Anbeißen aus. Auch für Cordo lag eine Garnitur bereit, die sich aus herzhaftem Wirsing, Fasanenfilet und einer Brokkoli-Halskrause zusammensetzte und von Nähten aus fein gezwirnten Karottenstreifen in Form gehalten wurde.

Die Gnomin grinste.

„Na, Lust, was zu Knabbern?“

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Kurzgeschichte: „Ins kalte Wasser“

CN: Trauma, Naturkatastrophe, Tod

Ich schwebte im Sturmwind über den weißschäumenden Wassern und fühlte sie nach mir emporzürnen. Und obschon ich alle Handgriffe tausendfach trainiert und in Einsätzen hundertfach erprobt hatte, zitterte mir an diesem Tag die Hand. Sie zitterte wohl in Erwartung der Schmerzen, die meiner harrten. Sie zitterte – und verriet mich, verfehlte mit dem Sicherungsclip den Gurt. Ohne Rückmeldung über dieses Versagen, ohne Chance, den Fehler zu korrigieren, stieß ich mich von der Kante der Schwebedrohne ab und warf mein Leben ungesichert in den tobenden Strom voller Schlamm, Trümmer und Leichen.
Die Physiotherapie war mühsam. Ziel war die optimale Regeneration der sensorischen und motorischen Nerven. Mein Gehirn musste darauf trainiert werden, die Signale des verletzten Rückenmarks zu empfangen und die zum Laufen notwendigen Kommandos zu senden. Deshalb schalteten die Therapeuten jedes Mal mein Spinalimplantat ab und nahmen mir damit auch die integrierte Anästhesiemaske, die Phantomwahrnehmungen und Schmerzen ausschaltete.
Ich genoss es. Jede Bewegung zu spüren, das Schreien meines zerbrochenen Leibes zu hören, die unzähligen Qualitäten unangenehmer Wahrnehmungen – in diesen Momenten war ich lebendig. Das explosive Stechen der gewaltsam voneinander getrennten Wirbelkörper, das dumpfe Brausen der Operationsnarben, das sich ewig steigernde Kreischen der Nerven in Unterleib und Beinen, die mir mitteilten, dass ich sie für immer verloren hatte und nun die Todesfeerufe untergehenden Gewebes aussandten – das waren Signale des Lebens.
Sie erwischten mich dabei, wie ich das Ende der Therapie hinauszögern wollte. Durch den Schmerz hindurch kämpfte ich Schritt für Schritt weiter, um mich zu spüren. Mahnende Worte sollten mich vor mir selbst schützen und schnitten mich doch bloß von der Konfrontation ab, die ich suchte.
Danach: Stumpfer Druck als höchstes Level körperlicher Eindrücke, das mir zugestanden wurde. Man wollte mich vor den schädlichen Auswirkungen ständiger Schmerzen bewahren. Aber nicht nur mein Körper war taub, auch seelisch war ich dissoziiert, von meinem Empfinden abgeschnitten.

Während die Physiotherapie mir die körperlichen Funktionen Stück für Stück zurückeroberte, entfernte sich der Rest von mir immer weiter. Ich konnte wieder für einige Sekunden aufrecht stehen, als die Ärzte mir mitteilten, dass es nun auch Zeit wäre, mich den psychischen Verletzungen zu stellen, die ich erlitten hatte.
„Die Flutkatastrophe 2053 in Sofia.“, begann ich meinen Bericht, doch die Psychotherapeutin unterbrach mich sofort.
„Ich habe den offiziellen Bericht und ihre Krankenakte gelesen. Es ist für diese Therapie wichtig, dass sie nicht frei erzählen und dadurch ihre Erlebnisse unkontrolliert abrufen. Stattdessen nähern wir uns den Geschehnissen Stück für Stück. So können wir verhindern, dass sie retraumatisiert werden.“
„Ist das wirklich nötig?“
„Ja, das geschieht zu ihrem Schutz.“
Ich schaute mich in dem Gesprächsraum um. Wie war ich hier gelandet? Eine Überweisung, der Termin von meinem Assistenzsystem vereinbart, eine Erinnerung gestern und nun saß ich hier.
„Aber wenn ich nichts erzählen darf, wie wollen Sie dann eine Diagnose stellen?“
„Man kann PTBS heute wesentlich sicherer durch Analyse der Hirnaktivität feststellen als durch Fragebögen oder Gespräche. Trotzdem werden wir später noch ein Interview führen, um die Diagnose zu sichern.“
„Gibt es keine Leute, die das dringender brauchen als ich? Ich habe keine Macke, sondern bin aus einer Gyrodrohne gefallen. Drei Wirbel und fünf Rippen gebrochen, der Fuß fast abgerissen, Quetschungen am ganzen Körper – daran will ich arbeiten.“
Später erklärte mir die Therapeutin, dass diese Art von Ablehnung der Therapie ein häufiges Phänomen ist. In der Tat erwartete ich an diesem Punkt, dass sie verständnisvoll seufzt und mir anhand nachvollziehbarer Symptome erklärt, wie kaputt mein Kopf war. Doch wahrscheinlich wollte ich nicht selbst von der Notwendigkeit der Behandlung überzeugt werden – es war ein Test, wie ernst sie mich nahm. Ob sie begriff, was auf dem Spiel stand.
Sie aber hielt der Herausforderung stand und spielte nicht nach meinen Regeln. Stattdessen warf griff sie zu ihrem Datenpad und machte sich Notizen. Wartete. Beobachtete mich.
Frau Hannsen war etwas über 50, androgyn, aber im persönlichen Overlay mit weiblichen Pronomen annotiert. Ihre langen Gliedmaßen und Finger wirkten überzüchtet, unterstrichen aber ihr sensibles Äußeres. Die Haare waren ungefärbt, aber in vergrauendem Blond von implantierten Silberfasern durchwoben. In ihrem beinahe uniformartigen Overall schien sie wie eine Hightech-Elfe, die in dem mit Korbmöbeln eingerichteten Zimmer fehl am Platze wirkte.
Die Stille dehnte sich und in mir wuchs der Wunsch, sie zu füllen. „Ich schlafe schlecht.“, platzte es aus mir heraus.
„Laut ihrer Akte sind sie in der Klinik überdurchschnittlich oft wach gewesen, im Schlaf hypermobil, auch mit Aktivitätsdurchbrüchen bis zum Schreien. In der ersten Behandlungsphase konnten auch starke Sedativa sie nicht dauerhaft beruhigen.“
„Ja. Aber ich brauche kein Schlafmittel mehr.“
„Träumen sie?“
„Wahrscheinlich.“
„Das heißt?“
„Wenn ich um mich schlagend aufwache, habe ich noch … Schnappschüsse? Bilder – aus dem Traum. Aber die sind danach fast sofort weg.“
Sie nickte. Notierte.
Ich ließ die Schultern hängen. „Wie soll diese Therapie ablaufen? Wenn ich nicht erzählen soll, was passiert ist, kann ich auch diese Träume nicht festhalten. Es hängt zusammen, wissen sie?“
Die Sitzung dauerte lange und mäanderte um verschiedene Themen. Offenbar wollte Frau Hannsen zuerst auffangen, was von selbst aus mir hervorbrach. Sie lenkte das Gespräch mit minimalen Kommentaren und Gegenfragen und ließ mich Stück für Stück erzählen, was ich für Symptome hatte.
Neben den Schlafstörungen und vermutlichen Alpträumen war die Abgestumpftheit das größte Problem. Ich hatte keine Freude mehr an meinen alten Hobbies, wollte niemanden sehen und verkroch mich abgesehen von Therapieterminen in meiner Wohnung.
Sex? Fehlanzeige. Schon Berührungen während der Physio waren mir unerträglich. Einmal fing mich einer der Trainer auf, als ich vom Laufband abrutschte, griff mir um Schulter und Hüfte und lehnte meinen Körper gegen seinen, damit ich nicht stürzte. Danach musste ich die Behandlung abbrechen, weil ich mich binnen Sekunden in einen wimmernden nutzlosen Fleischsack verwandelte. Aufblitzende Bilder von Händen, die sich an mich klammerten, in Tod und Tiefe reißen wollten, packten mich und rissen mich aus der Realität. Vom Heimweg hatte ich kaum etwas mitbekommen und war erst am nächsten Tag wieder in der Lage, zu essen oder zu reden.
Ähnliche Flashbacks hatte ich auch in Situationen, in denen ich keinerlei Auslöser identifizieren konnte. Meine Schwester war mit mir in ein Café gegangen und schwatzte über Familie und ihre Schwangerschaft. Dann brachte die Bedienung Tee und Kuchen und ich kippte. Endlos. Obwohl ich sicher im Rollstuhl saß.
Doch von solchen dramatischen Momenten abgesehen war meine Abgestumpftheit das Schlimmste. Sie wechselte sich mit kurzen Phasen der Hypervigilanz, in denen plötzliche Geräusche, fremde Gesichter oder das Gefühl von Wasser auf der Haut mir Schauer durch den Körper jagten und meine Herzfrequenz in die Höhe trieben. Ein Eindruck permanenter Bedrohung, die mich immer wieder am Rande von Panikattacken balancieren ließ.
Doch meistens war in mir einfach gar nichts.

„Es funktioniert also wie ein Schmerzeditor?“, fragte ich.
„Nein. Der unterbindet das Eintreten der Informationen vom Rückenmark in Ihr Gehirn. Traumatische Trigger sind komplexe Erinnerungsleistungen, die von Ihrem Bewusstsein interpretiert werden.“
Die Virtualität umgab mich mit neutralem Grau. Darin stand auf weißem Boden mit derselben Grundfläche wie das Behandlungszimmer eine Abbildung seiner Einrichtung, allerdings ohne Wände und Decke. Ich hatte nie viel Zeit im simulierten Raum verbracht und stets das Einsatztraining in realer Umgebung bevorzugt. Das Katastrophenhilfswerk war bei der Ausbildung äußerst konservativ und legte wert darauf, nicht nur mentale Trainings, sondern vor allem physische Instruktionskurse durchzuführen. Muskelgedächtnis ließ sich nur sehr begrenzt in der Virtualität aufbauen.
„Mich interessiert nur eins: Können Sie die Flashbacks ausschalten oder nicht?“
„Nicht so zuverlässig, wie sie gern hätten. Aber wir können den Stress reduzieren. Die Therapie konfrontiert sie in kontrollierter Umgebung. Ich kann das Geschehen jederzeit stoppen.“
„Ich wollte nicht zu Ihnen, daraus mache ich kein Geheimnis. Aber ich habe nachgelesen: Sie verwenden TTDP. Das ist kein Stressblocker?“
Trainable Trauma-Desensitization Plug-in. Der Lernfähige Trauma-Desensibilisierungs-Plug-in. Nie zuvor gehört – aber das hieß nicht viel.
Frau Hannsens Avatar in der virtuellen Umgebung war eine exakte Kopie ihrer physischen Präsenz. Auch ihre Körpersprache und die fließenden Handbewegungen, die mich an flatternde Schwalben erinnerte, war authentisch übertragen worden. Nun faltete sie die Finger und erklärte: „Das Programm sendet Signale an ihr Gehirn, das die Verarbeitung bestimmter Reize beeinflusst. Dabei macht es sich eine Fähigkeit zunutze, über die sie ohnehin schon verfügen: Kategorisierung und Priorisierung.“
„Wie soll das helfen?“
„Im Alltag sind Sie mit unfassbaren Datenmengen konfrontiert. Die kann Ihr Bewusstsein nicht synchron verarbeiten. Also gibt es Filter, eine Vorauswahl.“
Sie streckte die Hand aus und auf ihrer Fingerspitze erschien ein pulsierender Lichtpunkt. „Das Thema ist extrem komplex. Erlauben Sie mir ein Beispiel. Was sehen Sie?“
„Licht. Auf Ihrer Hand. Sieht aus wie eine Kugel, vielleicht zwei Zentimeter im Durchmesser. Strahlt aber deutlich weiter. Ich kann das Licht auf ihrer Hand sehen, in ihrem Gesicht.“
Ich holte Luft, um weiter zu beschreiben, aber sie unterbrach mich. „Ganz genau. Sie haben das gesehen, worauf sie sich konzentriert haben. Einen neuen Reiz, mit Bewegung, Licht und so weiter. Aber der Raum um sie herum hat nicht aufgehört zu existieren. Das Implantat hat weiterhin alle Daten gesendet. Die Informationen der Möbel, dem Boden, der Umgebungsmatrix kamen in Ihrem Gehirn an.“
Ich ergänzte: „Aber mein Fokus war woanders. Also verdrängt das TTDP traumatische Eindrücke?“
„Ja und nein. Es sorgt dafür, dass diese Eindrücke keine Trauma-Reaktivierung auslösen. Wer von einem schwarzen Hund traumatisiert wurde, kann mit dem Plug-in weiter schwarze Hunde sehen. Aber in der Therapie trainieren wir das System so, dass die Information schwarzer Hund neutraler bewertet und weniger priorisiert wird.“
„Bin ich dann nicht mein ganzes Leben auf das Plug-in angewiesen?“
Frau Hannsen wedelte den Lichtpunkt mit den Fingern weg. „Nein. Es ist nicht für den Alltag gedacht. Es ist dazu da, dass sie sich in dieser Umgebung den traumatischen Erinnerungen stellen können, ohne Symptomschübe zu erleben.“
„Dafür gibt es keine Pillen, oder? So manipuliert zu werden, klingt verstörend.“
„Früher hat man es mit Medikamenten oder Hypnose versucht, aber unsere modernen Verfahren sind wesentlich kontrollierter. Der Algorithmus lernt, welche Eindrücke bei Ihnen Stress auslösen und kann diese dann gezielt dimmen. Sie bleiben völlig wach. Keine Sedierung, keine Trance.“
Sie klang, als wollte sie mich überzeugen. Dabei stand nach der ersten Phase für mich fest, dass ich mich der Therapie stellen musste. Ich wollte endlich wieder mehr fühlen als nur den Schmerz der Physio.

Ein paar Wochen später tastete ich mich weiter voran. Um mich herum war diesmal nicht das neutrale Grau, sondern ein Sturmhimmel. Wasser prasselte zu Boden, Wind zerzauste meine Kleidung. Die Simulation war nicht perfekt, aber der Realität nahe genug, dass mir eine Gänsehaut wuchs.
Ich hing unter dem Einsatzgleiter – wie eigentlich geplant und nicht so, wie es sich beim Unfall zugetragen hatte – und wurde mit der Seilwinde langsam nach unten gelassen. Mein Blick glitt nach unten, angeleitet von Frau Hannsen, deren Stimme mich führte: „Denken Sie an Ihre Atmung. Bis hierher machen Sie das ausgezeichnet!“
Tatsächlich war ich erstaunt, wie leicht mir dieser Schritt fiel. Wir hatten uns dem Wasser bisher nur angenähert, erst im Gespräch, dann in digitaler Virtualität. Heute ging der Plan weiter: Meine Schuhe berührten die Bojanska reka. Das normalerweise schmale Flüsschen, dessen Wasser über den Iskar bis zur Donau fließt, war in Folge massiver Niederschläge zu einem wilden Strom angeschwollen, der an diesem Tag drohte, eine Berghütte wegzuspülen. Ich sollte die darin eingeschlossenen Personen einsammeln und in Sicherheit bringen.
In den Fluten eingeschlossene Luftblasen trieben zur Oberfläche und schenkten ihr ein schäumendes Röcheln. Mein Blutdruck stieg – obwohl ich wusste, dass ich in Sicherheit war, obwohl ich die Atemübungen befolgte.
Meine Knie tauchten ein, ich fühlte die Kälte an meinen Waden rasch nach oben steigen, je tiefer ins Wasser ich sank. Die Strömung griff nach mir und zerrte.
„Kann weitergehen.“, erklärte ich tapfer.
Die Bojanska reka riss mich tiefer hinab, beschleunigte das kontrollierte Absinken. Das Seil hing schräg unter dem Gleiter, während das schlammige Wasser mich einsog.
„Beschreiben Sie, was sie erleben!“, forderte Frau Hannsen.
„Kälte, die Kraft des Flusses, er ist stärker als ich. Meine Hände im Wasser, meine Arme, die Schultern. Das ist gleich Kontrollverlust.“
Mein Atem ging kraftvoll und schnell. Als mein Kopf in der Simulation untertauchte, konnte ich normal Luft holen. Kein Wasser flutete meine Lungen, kein eisiger Tod, der mich erstickte. Sprudelnde Gischt füllte meinen Blick, dann tauchte ich wieder auf, ging wieder unter. Der Strom spielte mit mir.
„Wie ist das jetzt?“, fragte die Therapeutin.
Ich stammelte, konnte meine Worte nicht mehr zu ganzen Sätzen zusammenfügen: „Das … ich … kalt! Schwimmen – geht nicht. Angst!“
In die Bilder, welche die VR mir einspeiste, mischten sich blitzartig auftauchende Eindrücke: Die Wasserfläche, die scheinbar zu mir empor reicht und mich nach unten zieht. Abgerissene Äste, dir mir vom Fluss ins Gesicht geschlagen werden. Ein Baustamm, von dem ich mich im letzten Moment noch abstoßen kann. Dann ein großer Felsen, an dem mein Körper abprallt und von einer Sogströmung unter Wasser gedrückt wird.
Wie lange ich geschrien und um mich geschlagen habe, weiß ich nicht mehr. Frau Hannsen verzichtete auf eine Sedierung und blieb die ganze Zeit bei mir. Im Nebel der Flashbacks bekam ich mit, wie sie Folgetermine absagte, mir zu Trinken gab. Durch Atemübungen und sensorisches Anker gelang es mir unter ihrer Anleitung langsam, aus der Dissoziation zurückzukehren.
Völlig erschöpft saß ich schließlich in meinem Korbsessel. Die Erinnerungen ebbten ab. „Sollte das so schlimm werden?“
„Auf keinen Fall! Die Filter müssen sich noch anpassen. Ruhen Sie sich aus. Wir werten diese Sitzung erst bei unserem nächsten Treffen aus. Denken Sie dran – wenn erneut Flashbacks auftreten, melden Sie sich. Gerade in Zusammenhang mit der Situation, die wir heute simuliert haben. Niemand zwingt Sie, das allein durchzustehen.“
Die folgenden Nächte waren alles andere als erholsam. Aber ich schaffte es, nach einem besonders schlimmen Alptraum die Notfallnummer anzurufen. Frau Hannsen antwortete nicht persönlich. Stattdessen sprach ich eine ganze Weile mit einem virtuellen Assistenten, der mir mit Engelsgeduld zuhörte und schließlich noch bei Entspannungsübungen anleitete.

Genau drei Wochen später probierten wir es erneut. Die Dämpfung der Trigger war diesmal wesentlich erfolgreicher und ließ mich die geplante Zeit im virtuellen Wasser überstehen. Das Gefühl dabei war nur schwer zu beschreiben. Ich wusste, dass dies nur der Anfang war. Aber der Umstand, dass ich mir bei der Vorstellung, untergetaucht zu werden, nicht mehr einpisste, machte mir Hoffnung, dass ich die wirklich schlimmen Erinnerungen auch bewältigen konnte. Es ging nicht sofort mit dem nächsten traumatischen Abschnitt weiter, aber ich wurde von Woche zu Woche stabiler und selbstsicherer, lernte, die Trigger kommen zu sehen und ihnen gelassen zu begegnen.
Doch nichts konnte mich auf das Kind vorbereiten. Es war eines Tages einfach da. Hing an meiner Hüfte, umklammerte mich mit kalten Armen. Es tauchte nicht etwa in der Therapie auf, war keine Ergänzung der virtuellen Realität – nein, es hing plötzlich an meiner Seite, als ich mich vom Rollstuhl hochstützte, um auf den Duschhocker überzuwechseln.
Ich verlor den Halt und glitt zu Boden. Im ersten Moment verstand ich überhaupt nicht, wieso auf einmal dieser fremde kleine Mensch an mir hing, stumm wie ein Fisch. Dem Eindruck nach war es ein Mädchen, mit aufgeweichter Haut, klatschnassem Haar – und überhaupt machte es den Eindruck, als wäre es gerade aus einem tiefen kalten Brunnen gestiegen.
„Was machst du denn hier?“, rief ich aus, schon im Bewusstsein, dass es sich nur um eine Halluzination handeln konnte. Keine Reaktion. Die Kleine zitterte, ihre Lippen blau, die Augen zusammengekniffen. Und egal, was ich versuchte, sie wich nicht von meiner Seite.
Das konnte ja heiter werden.

„Ist das irgendeine Botschaft? Vom Unterbewusstsein? Oder verliere ich einfach den Verstand? Werde ich wahnsinnig?“, fragte ich bei der nächsten Sitzung.
„Nein. So funktioniert unser Gehirn nicht. Und Wahnsinn müssen Sie auch nicht befürchten.“
Frau Hannsen rief auf einem Datenpad eine grafische Darstellung von Messwerten auf. Sie studierte die Bilder kurz und erklärte dann: „Wie ich mir dachte – es handelt sich um eine Intrusion. Eine Erinnerung, die an die Oberfläche gelangt ist und sich nun in Form dieses Mädchens manifestiert.“
„Aber ich erinnere mich nicht an sie.“
„Dissoziative Amnesie. Ihr Gehirn beschützt Sie, indem es Erinnerungen verbirgt, die zu belastend sind. Dass sie nun wieder auftauchen, ist kein Zeichen von Wahn, sondern eher eines der Besserung. Ich möchte das so interpretieren, dass Sie bereit sind, diese Erlebnisse zu betrachten und zu verarbeiten, ohne dass Sie in psychische Not geraten.“
„Sie kennen meine Akte, wir sind den Bericht gemeinsam durchgegangen – da war kein Mädchen.“
„Nicht, als sie gefunden wurden. Nein.“
Mir war, als hätte mir jemand Eiswasser in den Nacken gespritzt. Ich schauderte und sah zu der Kleinen hinab. Ich hatte mich schräg in den Korbsessel gelehnt, damit sie Platz hatte. Völlig unabhängig von der Situation war sie stets dieses nasse klammernde Bündel geblieben. Nichts, was ich tat, hatte einen Einfluss auf ihre Haltung, ihre Verfassung.
„Fühlt sich an, als würde ich einen Geist sehen.“
Frau Hannsen schaute mir mit leicht gesenktem Kopf in die Augen. „Geben Sie ihr einen Namen. Das macht es einfacher, über sie zu sprechen.“
„Jane.“, sagte ich, ohne nachzudenken. Jane Doe. Unbekannte weibliche Person. Oft für nicht identifizierbare Leichen oder bewusstlose Verletzte nach Katastrophen verwendet, die ohne ID-Daten aufgefunden wurden.

Von nun an war sie immer mit dabei. Sie zog während der Physiotherapie an mir und sorgte dafür, dass ich wegen meiner schiefen Haltung gerügt wurde. Sie begleitete mich durch den Alltag, wachte mit mir auf und ging mit mir ins Bett. Tag für Tag gewöhnte ich mich mehr an ihre Präsenz, auch wenn bestimmte intime Prozeduren immer noch befremdlich waren. Doch nichts schien sie zu stören.
So begleitet Sie mich auch in die Therapie und das Training in der virtuellen Realität. Zum ersten Mal sah ich Frau Hannsen verunsichert. „Ich kann nicht überprüfen, ob Sie Jane noch sehen oder spüren. Lassen Sie mich also wissen, wenn sich etwas verändert.“
Der gewohnte Einstieg war immer noch derselbe. Ich wurde von der Drohne ins Wasser gelassen. Doch diesmal passte ich mein Verhalten instinktiv an meine Passagierin an. Ich drehte mich im Fluss so, dass mein Körper immer zwischen ihr und den Hindernissen lag. Felsen und Bäume knallten mir gegen Rücken und Kopf, weil ich nicht mehr mit derselben Kraft und Orientierung schwimmen konnte.
Bevor ich mich in die neue Situation eingefunden hatte, unterbrach die Therapeutin den Prozess. „Ihre Werte sehen nicht gut aus. Das TTDP funktioniert nicht.“
Doch ich spürte nichts davon. „Ich habe keine Flashbacks, ich bin noch ganz da.“
„Falsch. Jane ist ein Flashback! Das System kann nicht mit ihr arbeiten. Der Reiz entsteht in ihrem Gehirn. Er wird nicht von ihrem Implantat erzeugt.“
Ich stockte und sah an mir hinab. Frau Hannsen hatte die Umgebung zurückgesetzt. Mich umgab nun wieder der simulierte Therapieraum.
„Und was heißt das jetzt?“, fragte ich.
„Dass wir die Behandlung aussetzen. Sie stabilisieren. Bis die Kleine verschwindet. Tut mir leid.“
Das versetzte mir einen Stich. Wieso sollte ich sie zurücklassen? Sie erklärte so vieles! Meine Unfähigkeit, mich berühren zu lassen: Natürlich! Kein Wunder, dass die Behandlung zwar einige Alpträume minderte, aber andere Symptome nicht ankratzte.
„Sie muss da gewesen sein. In Sofia. Sie ist Teil des Traumas. Das sagen Sie selbst. Warum sollte sie dann nicht Teil der Behandlung sein.“
„Das Verfahren funktioniert innerhalb definierter Parameter. Wenn ich gegen das Protokoll verstoße, gibt es keine Garantien.“
Nun musste ich lachen. „Garantien? Das heißt, Sie therapieren mich nur, wenn Sie sich des Erfolgs sicher sein können?“
Mit konsternierter Geste griff sie sich ans Ohr. Ihre schlanken Finger schienen einen Moment nicht der strengen wohldosierten Kontrolle zu unterliegen, die Frau Hannsen sonst ausstrahlte. Spielten am Ohrläppchen, als wären sie auf der Suche nach einem kleinen Schmuckstück, das sich dort sonst befand.
„Das ist ein Risiko. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie …“
„Scheiß auf das Risiko!“, rief ich. Das war der erste wütende Moment, den ich seit dem Unfall erlebte. Ich genoss es. „Sie haben den Unfallbericht gelesen? Kennen Sie meine Arbeit? Meinen Alltag? Ich bin ständig im Risiko!“
„Bitte, regen Sie sich nicht auf. Wir können nicht einfach das Therapieverfahren sprengen.“
„Was soll passieren?“
„Retraumatisierung. Symptomverschlimmerung. Sie haben großartige Fortschritte gemacht. Die sollten Sie nicht einfach aufs Spiel setzen.“
Erst dachte ich, dass mein Ausbruch Sie eingeschüchtert hätte, aber Frau Hannsen hatte die professionelle Haltung zurückgewonnen. Meine Chance, sie zu überzeugen, sah schlecht aus.
„Ich bin an diesem Tag in einen Fluss gesprungen. Sie sehen jedes Mal in der Therapie, was das für ein Anblick war. Und das war nicht mein erster Einsatz. Nicht der erste Sprung.“
Ihre Augen wurden kalt. „Und sehen Sie, was sie davon haben.“
Das kam unerwartet. Sie hatte mich mit dieser Bemerkung getroffen. Aber ich versteckte mich nicht. „Ja. Und ich täte es wieder! Jetzt erzählen Sie mir nicht, dass ich mich beruhigen soll!“ Ich atmete durch, bemerkte, dass mein Hals kratzte, meine Augen brannten. „Dieses Kind stand auf dem Spiel – und noch andere. Eingeschlossen in einer Berghütte. Verängstigt, ohne Strom, ohne Licht. Und draußen ein Fluss, der sie mit Trümmern und Flut in Richtung Tod drückte. Das lief auch nicht nach Protokoll, deswegen brauchten Sie meine Hilfe!“
„Wie fühlen Sie sich?“, fragte sie.
„Was?“
„Sie sind aufgebracht. Das sehe ich. Was fühlen Sie?“
„Ich bin zornig. Ich will, dass Sie mir helfen – und Sie tun es einfach nicht. Wahrscheinlich bin ich auch traurig. Ich fühle mich hilflos. Im Stich gelassen.“
„Gut.“
„Was zur Hölle?“
Sie lächelte. „Glauben Sie bitte nicht, dass ich das provozieren wollte. Ich würde nie wagen, sie bewusst zu so einer Reaktion zu drängen. Aber – gut! Sie fühlen wirklich. Die ganze Zeit in der Simulation haben Sie mir Emotionen zurückgemeldet, die sie für situativ passend hielten. Aber Ich kann es ja sehen! Ich sehe Ihre Gehirnaktivität. Und jetzt haben sie zum ersten Mal in der Therapie eine authentische emotionale Reaktion.“
Die virtuelle Realität schaltete sich ab, perlte von mir ab wie die letzten Tropfen eines Regens. Ich starrte Frau Hannsen mit aufgerissenen Augen an. „Scheiße. Wirklich?“
„Jane ist noch da, oder?“
Kurz schaut ich zu ihr, aber ich sah und spürte ihre kalte Umklammerung unverändert. „Ja.“
„In Ordnung. Ich sage noch nicht ja, aber ich lasse mir Ihre Bitte durch den Kopf gehen. Lassen Sie uns jetzt ein paar Übungen zur Emotionsregulation ausführen. Damit ich Sie ohne Bedenken nach Hause gehen lassen kann. Danach beenden wir die Sitzung für heute.“

Einige Wochen später. Ich war an die Anwesenheit von Jane so sehr gewöhnt, dass ich sie oftmals vergaß. Während ich anfangs darauf bedacht war, sie sanft und fürsorglich zu behandeln, gewann schließlich doch die Erkenntnis, dass sie nicht real war, die Oberhand. Nur in die Therapie konnte ich diesen Eindruck nicht hinüberretten. Dort war sie so präsent wie am Anfang.
Frau Hannsen hatte sich mit mir vorangetastet und den wahrscheinlichsten Ablauf rekonstruiert: Die Kleine trieb in der tobenden Bojanska reka unter dem Drohnengleiter vorbei. Als ich sie entdeckte, musste ich blitzschnell handeln, um sie beim Absprung noch zu erwischen. Das führte vermutlich zu dem Fehler, der mir beim Einhaken des Sicherungsclips unterlief. Aber ich erreichte sie rechtzeitig, konnte sie packen und zu mir ziehen. Meine Schwimmweste verhinderte, dass wir untergingen, auch wenn uns Strudel und Gischt immer wieder überspülten.
Nun musste ich mich einer anderen Wahrheit stellen.
„Irgendwann haben Sie Jane verloren.“, sagte Frau Hannsen.
Wieder einmal schwamm ich in der Simulation. Nacht und Regen, die chaotische Situation im Fluss – all das barg kaum noch Schrecken für mich. Selbst die TTDP konnte Stück für Stück reduziert werden, sodass ich nur mit minimaler Dämpfung meiner Emotionen die Situation erlebte. Das Treiben in der Strömung lief in einer Schleife von etwa fünf Minuten, sodass ich scheinbar endlos lang im Wasser unterwegs war, die Kleine immer an meiner Seite.
„Ich denke, ich habe ihr eine Seilschlaufe um die Schultern gelegt. Das ist in solchen Situationen das trainierte Vorgehen.“
Nebenher wich ich Trümmern, Ästen und Baumstämmen aus. Die Position dieser Gefahren im Fluss war nie dieselbe. Das Programm forderte mir Wachsamkeit und Präzision ab. Ständig musste ich schwimmen, strampeln und mich drehen, um die schlimmsten Stöße abzufangen und Jane von den Zusammenstößen abzuschirmen.
„Sie lässt Sie nicht los. Fühlt sich bei Ihnen sicher. Jane vertraut Ihnen.“, schloss die Therapeutin.
Mit einem Mal trieb ich in viel realerem Wasser. Seine Kälte benetzte meine Haut, strudelnde Kraft sog an meinen Füßen und kämpfte gegen den Auftrieb der Schwimmweste. Kleine Finger pressten sich in die Haut meines Bauches und meines Rückens.
„Wo sind sie?“, fragte Frau Hannsen.
„In Sofia. Sturm.“
Meine Zähne klapperten. Ich zuckte bei jeder Kollision im Wasser zusammen. Ein Ast tauchte zwischen den Wellen auf, frisch vom Sturm abgerissen, komplett mit grünen Blättern. Seine Zweige kratzten mir über Arme und Wange, während ich paddelte und Wasser trat, um Distanz zu gewinnen.
„Ich schaffe das nicht!“, wimmerte ich.
Der Druck der Wellen schob mich an den Rand, ließ mich über Geröll und Steine schrammen, ohne Chance, mich festzuhalten und der Bojanska reka zu entkommen. Dann kam die Klamm. Ein enger Durchgang in den Felsen des Vitosha-Massivs. Die Wände kamen bedrohlich nahe, stießen gegen mich, holten wieder aus und donnerten mir gegen Rücken und Schultern.
„Sie haben das schon einmal geschafft. Was tun Sie, um das zu überleben?“
Verbissen stemmte ich mich gegen die Strömung. Für einige Sekunden bekam ich ein schweres Holzstück zu fassen und manövrierte es zwischen mich und die Gefahr, die vom Ufer ausging. In den engen Passagen wurde die Strömung mörderisch schnell. Immer wieder sackte ich weg und wurde von Strudellöchern verschluckt, um Augenblicke später wie ein Korken an die Oberfläche zu schnellen.
Frau Hannsens Stimme wurde eindringlich. „Sie dissoziieren. Hören Sie auf meine Stimme.“
„Ja. Ich höre.“
Das Rauschen des Wassers übertönte alles, schwoll an, genauso wie die Geschwindigkeit des Flusses. Bald musste der Wasserfall kommen.
„Sie haben das überlebt. Sie überstehen es wieder.“
Doch meine Bewegungen wurden immer langsamer. Benommen von den Stößen und Schlägen, die Trümmer und Felsen austeilten, verlor ich den Überblick. Immer noch schob ich mich zwischen Jane und die schlimmsten Gefahren, schützte ihren blaugefrorenen Körper vor dem Zorn der Elemente.
Mit einem Mal verlor ich den Bezug zur Situation vollkommen. War schwerelos und stürzte in die Tiefe. Dann ein zerschmetterter Tod am Fuß des Wasserfalls.
Doch dieser Alptraum wollte mich nicht hergeben und ließ mich erneut aus dem Gleiter fallen und in den Fluss platschen. Ich packte die Kleine im Wasser und band ihren Körper an meinen. Nichts von außen drang zu mir durch. Ich war ganz Konzentration und Kraft, setzte mich ein, um Jane zu schützen.
Sie hatte keinen Namen und niemanden außer mir, der ihr helfen konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich ihre vom kalten Strom blaugefrorenen Lippen, die aufgeweichte Haut. Wie lang war sie schon im Wasser getrieben? Wie oft war ihr Kopf untergetaucht? Wie viele Male musste Sie schon gegen Baumstämme geprallt, über Steine geschrammt und von Trümmern gerammt worden sein?
Wie lange war sie schon tot, ehe ich sie erreicht hatte?
Warum spürte ich dann, wie sie mich umklammert hielt? Eine tückische Illusion, weil ich so sehr wünschte, sie gerettet zu haben?
Es war längst klar, wie ich überlebt hatte: Nicht mein Körper hatte die schlimmsten Kollisionen abgefangen, sondern Janes. Ein elementarer Bestandteil der Ausbildung besagte, dass bei derartigen Einsätzen das Leben des Retters die oberste Priorität hat. Tote Helden halfen niemandem mehr. Aber wenn ein Katastrophenopfer bei einer Rettungsaktion verletzt wurde, konnte ich es immer noch versorgen, bergen, dafür verantwortlich sein, es so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu schaffen, wo optimale Bedingungen fürs Überleben herrschten.
Als die Ufer näherkamen und links und rechts steinernen Wänden gleich aufragten, drehte und wendete ich mich wieder, um den Ansturm gefährlicher Felsen zu überstehen. Doch diesmal nutzte ich den Leib des Mädchens als Puffer, verbarg meine Knochen hinter ihren.
„Sie ist noch so klein.“, flüsterte ich, als der rasende Fluss versuchte, unsere Körper an den Steinen zu zerreiben.
„Ich hätte sie retten müssen. Es war meine Aufgabe. Meine Verantwortung. Ich habe sie im Stich gelassen.“
Jetzt spürte ich eine Berührung. Die Therapeutin hatte mir vorher höchstens die Hand zur Begrüßung geschüttelt. Nun legte Sie mir ihre Finger sacht auf die Schulter. Drang mit ihren Worten zu mir durch: „Und manchmal scheitert man an unlösbaren Aufgaben. Das tut weh, aber es gehört dazu. Sie hatten das Pech, das dabei Leben auf dem Spiel standen. Aber sie haben überlebt.“
Die Bojanska reka riss mich mit dem Bündel Mensch, das um meine Seite geschlungen war, weiter fort.
„Als Sie gefunden wurden, war Jane immer noch bei ihnen. Sie hatte zahllose Verletzungen, die mit dem Leben nicht vereinbar waren.“
Vor mir der Wasserfall.
Ich sagte: „Ich konnte sie doch nicht einfach loslassen.“
„Sie wussten in dem Moment wahrscheinlich gar nicht, dass sie bereits tot war.“
„Nein.“
„Aber wissen Sie was? Sie können sich immer noch entscheiden, sie gehen zu lassen.“
Freier Fall, entlang den Felsen, umgeben von schwerelosen Wassertropfen, weißem Nebel, fast friedlich.
Ich lies los.

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Warum schreibe ich SciFi?

Mir geht es um Transformationsprozesse, um „Was wäre wenn …“ nicht im Licht der Fantasy und ihrer Konventionen, sondern eine möglichst ehrliche Perspektive, was die Zukunft mit uns Menschen machten und wir mit ihr. Welche neuen Konflikte entstehen, wenn wir alte Probleme überwinden, welche Themen kehren immer wieder zu uns zurück und was heißt Menschsein in einer mehr und mehr vom Menschen bestimmten Umwelt?

Wie entwickeln sich unsere Bedürfnisse, unsere Sorgen? Wofür kämpfen wir in Zukunft und wer wird dabei an unserer Seite stehen?

Das heißt, dass ich weniger auf Space-Lasergefechte und epische Erzählungen aus bin als auf die Details, auf Menschen, die neugierig machen, weil sie heute wie in Zukunft von Normen oder Vorschriften abweichen.

Das heißt für mich, auch traditionelle Rollenbilder und konservative Werte zu hinterfragen. Queerness, Neurodivergenz, Integration und Repräsentation sind dafür wichtige Themen. Und in der Hinsicht brauchen wir keine Dystopien. Das fordern schon genug Leute. Daher Solarpunk.

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Kurzgeschichte: „Herr Weber geht aufs Ganze“

„Alles auf Rot!“ – „Schwarz gewinnt!“ – „Scheiße.“
Klassiker.
Ich bin niemand, der auf sowas reinfällt. Casinos funktionieren nur, weil die Leute verlieren. Nicht ständig, nicht fatale Mengen. Auf Dauer und statistisch dennoch eindeutig.
Oh, und ich glaube nicht ans Glück. Nicht an Schicksal und anderen esoterischen Bullshit. Höchstens an den Wert anständiger Arbeit. Niemandem fällt per Zufall ein Vermögen in den Schoß – meist hat er es irgendwo gestohlen.
Nun war ich am Hotel angekommen, einem ehemaligen Handels- oder Speicherbau am Elbufer. Zum Glück hatte niemand das Gebäude äußerlich modernisiert. Es strahlte immer noch die bodenständig-nüchterne Pracht alter Handelsaristokratie aus. Wer ein Casino betreibt, kann es sich eine Sache nicht leisten: Die Besucher dürfen nicht schon beim ersten Anblick erkennen, dass sie gleich ein windiges Etablissement betreten.
Der Check-In war die erste Hürde. Ich entschied mich für Ehrlichkeit. Die 3D-Scanner waren in ihrer Darstellung körperlicher Realitäten schließlich auch nicht zimperlich.
Als ich dem Sicherheitsmann meinen Koffer in die Hand drückte, sagte ich: „Ich bin privater Ermittler auf der Suche nach einem flüchtigen Verbrecher. Ich habe Hinweise darauf, dass diese Person in Ihrem Etablissement ein Treffen mit einem wichtigen Kontakt abhalten will.“
„Kopfgeldjäger?“
„So kann man das auch nennen.“
„Lizenz?“
Ich übermittelte sie. Nicht, dass es schwierig war, eine solche Lizenz zu erhalten. In erster Linie wurde nur überprüft, ob man selbst Gegenstand irgendwelcher Fahndungen oder Terrorwarnlisten war. Ein gedankliches Kommando und meine implantierte Datenbank schickte das Dokument an das System des Sicherheitsmannes.
„Waffenbesitzkarte?“
„Brauchen Sie nicht. Ich habe mich im Vorfeld informiert und weiß, dass Sie keine bewaffneten Privatpersonen dulden. Ich komme ohne Waffen. Nicht einmal eine Nagelfeile.“
Zum ersten Mal sah die Sicherheitskraft vom Scannerbildschirm auf. Mein Koffer war natürlich blütenrein. Ehrlichkeit, wie gesagt: Wenn ich es drauf angelegt hätte, hätte es dutzende Möglichkeiten gegeben, eine Waffe hereinzuschmuggeln. Das wussten wir beide.
Sein Mund verzog sich zu einem schmalen Strich. Ich und meine Profession sagten ihm nicht zu. Tragisch.
„Wir werden keine Belästigung unserer Gäste dulden. Wenn Sie in unserem Haus arbeiten möchten, müssen Sie uns zusichern, dass Sie die Abläufe in Casino, Restaurant, Hotel und Spa-Bereich nicht stören. Hier das Formular bestätigen.“
Ich nickte die Anfrage, die in der Peripherie meines Feeds erschien, rasch ab.
„Ich weiß, wie ich meinen Job erledigen muss. Wenn ich zu viel Wind mache, ist mein Ziel schneller weg als ein Blinzeln im Sonnenlicht. Kommen Sie, wir sind doch beide Profis.“
Minimale Muskelkontraktionen um die unteren Augenlider. Sich blähende Nasenflügel wie bei einem Bluthund, der eine Fährte aufnahm. Hey – der Bluthund hier war ich! Dieser Security-Typ war vielleicht halb so alt wie ich. Die Entscheidung, ob man mich duldete, würde ohnehin sein Daddy treffen müssen.
„Fragen Sie einfach Ihren Chef. Ich habe ihn im Vorfeld kontaktiert und um Unterstützung gebeten. Sieht aus, als hätte er sich noch nicht entschieden, aber vielleicht kann ich ihn ja unter vier Augen überzeugen.“
Oh, fast wäre ihm die Mimik entglitten. Der Mann am Scanner war nicht ohne Grund nur der Mann am Scanner. Er hatte nichts zu entscheiden, war nur für die äußerste Blase der Sicherheit zuständig. Ihm zu zeigen, dass ich das wusste, war brutal. Aber ehrlich. Naja. Vielleicht hätte ich diplomatischer vorgehen können, aber – bleiben wir bei der Wahrheit – kein Bock.
Ich wurde in einen Nebenraum geführt, immer noch abseits der Lobby, in die man erst nach dem Sicherheitscheck eintreten durfte. Für die meisten Gäste eine Angelegenheit von einigen Sekunden. Ich durfte mich stattdessen mit dem „Head of Security“ herumschlagen. Ein Mittvierziger – immerhin – mit wie aus Stein gehauener Schädelform und makelloser Frisur. Seine Haut glatt und von allen Unreinheiten und sonstigen Spuren von Leben verschont. Alles zeugte davon, dass er sich ausgiebig per Facemod optimiert hatte.
„Kopfgeldjäger?“ – selbe Frage und selber Tonfall, den schon der Scannerbubi probiert hatte.
„Ja. Können Sie mir ein bisschen entgegenkommen? Ich will einen sauberen Job machen, ohne viel Aufsehen, keine Verletzten.“
„Wen genau suchen Sie denn?“
„Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht erzählen will. Die Gefahr ist zu groß, dass Sie selbst das Kopfgeld einstreichen wollen und mich linken. Nicht, dass ich Ihnen das persönlich unterstelle, aber lassen wir es einfach gar nicht erst zu dieser Gelegenheit kommen.“
„Herr … Weber,“ – er implizierte, dass er gerade eben erst meinen Namen in die AR-Einblendung aufgerufen hatte, weil ich so unbedeutend war und seine Zeit ohnehin nur verschwendete – „unser Haus profitiert von einem tadellosen Ruf. Wir sichern unseren Besuchern Anonymität zu.“
„Ich weiß, ich habe das Profil des Etablissements schon …“
„Nein, sie verstehen nicht. Nicht nur geben wir keine Daten über unsere Gäste an Dritte weiter, wir schützen ihre Privatsphäre auch ganz praktisch.“
Jetzt kam der Haken an diesem Job.
„Ja, sehen Sie, ich weiß das schon alles. Ich wollte darum bitten, mir eine Ausnahme in ihrem Facemod-System einzuräumen. Das würde meinen Aufenthalt hier drastisch verkürzen, ich könnte mein Ziel schnell ausmachen, einpacken und den Behörden übergeben.“
„Wieso sollte ich das tun?“ Implizit musste man hier die aufgehaltene Hand mitdenken.
Wollte ich sie füllen?
Nope.
„Lassen Sie es mich so versuchen, als Vertrauensbeweis: Unter Ihren Gästen befindet sich eine Jarmila Mašková, hier sicher unter falschem Namen eingecheckt. Eine gesuchte Bioterroristin, die erheblichen Schaden verursacht hat. Sie würden nicht nur mir einen Gefallen tun, wenn sie helfen, sie aus dem Verkehr zu ziehen.“
Der Chef hatte das ausdruckslose Steingesicht wesentlich besser drauf als Scannerbubi. Diesmal wollte er, dass ich sah, wie sehr er mich für diesen Versuch, ihn auf meine Seite zu ziehen, verachtete. So ganz ohne Bakschisch.
„Sie halten Ihre Profession sicherlich für ehrenwert und folgen offenbar einem gewissen Kodex, aber ich kann Ihnen hier keine pragmatische Lösung anbieten. Unser Haus gewährt keine Ausnahmen für private Ermittler und ist mit dieser Haltung immer gut gefahren. Die AR-Anonymisierung samt Facemod wird jedem Gast eingespielt. Sollten Sie versuchen, technische Mittel zur Umgehung dieser Maßnahme einzusetzen, erhalten Sie Hausverbot.“
Kodex? Ich halte mich nicht für einen weißen Ritter, der Witwen und Waisen vor dunklen Schurken rettet. Herrje, ich musste ganz einfach mein Geld zusammenhalten und hatte keine Lust, es zum Fenster rauszuwerfen, ohne auch nur sicher sein zu können, dass Mašková überhaupt persönlich zum Treffen erschien. Die Blamage, die Casino-Sicherheit zu schmieren, um hinterher mit leeren – noch leereren – Händen dazustehen, musst ich mir nicht geben.
Es hatte jedoch keinen Zweck, den Chef der Security gegen mich aufzubringen. Ich war nur ein Fingerschnippen davon entfernt, rausgeworfen zu werden. Appelle an sein Ehrgefühl waren Unfug, das troff ihm aus den virtuell geglätteten und tiefenreinen Poren.
„Wie wäre es mit einer Beteiligung am Kopfgeld? Das dürfte sich selbst bei Ihrem Gehalt in einer leitenden Position der Sicherheitsabteilung lohnen.“
„Bedaure. Ich werde für eine Taube auf dem Dach nicht die Privatsphäre unserer Gäste kompromittieren. Es bleibt dabei. Wenn es Sie beruhigt: Der Anonymisierungsdienst gilt selbstverständlich auch für Sie. Wir hängen Ihre Anwesenheit hier nicht an die große Glocke – allein schon, weil es für Unruhe sorgt. Wir dagegen wollen Entspannung und Zerstreuung bieten, eine Auszeit vom Business.“
„Schönen Dank auch. Ist mein Gepäck mittlerweile ausreichend durchleuchtet worden?“
„Selbstverständlich. Bitte folgen Sie mir.“
So ein Reinfall. Ich hatte mit mehr Spielraum für meine Ermittlungen gerechnet. Dennoch waren die Aufzeichnungssysteme den ganzen Weg durch die Lobby, über die Aufzüge bis zu meinem Zimmer aktiv und sammelten jede Menge Daten. So würde ich mir zumindest einen ersten Überblick verschaffen können.
Die wenigsten Gäste trugen exzentrische Facemod-Überblendungen. Dann schritten sie mit den Gesichtern von Fantasietieren, Monstrositäten, Figuren aus der Pop-Kultur oder der – meist europäischen – Geschichte und Mythologie umher. Manche begnügten sich mit der simpelsten Variante der Anonymisierung: Scrambling. Ihr Gesicht löste sich bei Betrachtung in eine Wolke aus Pixeln, voluminösem Nebel oder schwarzen Würfeln auf.
Einige hatten die Gelegenheit genutzt, dieses Verschleierungsmittel als Ausdruck eigener stilistischer Überzeugung zu verwenden und nervten den Betrachter mit Glitzereffekten, Cartoon-Darstellungen oder Manga-Überzeichnung. Dies erstreckte sich zum Teil auch auf die Körper: Die Technologie war ohne Weiteres in der Lage, Hautfarbe, Pigmentflecken, Tattoos und andere Identifikationsmerkmale zu überlagern oder zu verfremden.
Wer es wünschte, konnte selbst seine Kleidung als simple geometrische Formen mit darauf applizierten Texturen und Grafiken programmieren und so Umrisse, Körperform und weitere Indizien verbergen. So kam es, dass mir allein auf dem Weg durch die Lobby drei Standard-Avatare auffielen: Einheitliche Größe, grauer geschlechtsloser Anzug, haarlose Köpfe ohne dreidimensionale Ausgestaltung von Schädelpartien, Nase oder Ohren. Stattdessen zeigten Sie den stupide lächelnden Aufdruck, mit dem Klemmbaustein-Kinderspielzeug bedacht wurde.
Ich bewegte mich durch die reale Welt, wurde dank der augmentierten Wahrnehmung derselben aber von dem Eindruck verfolgt, mich in den Abgründen der Virtualität zu befinden. Mich beschlicht einen Moment das Gefühl, als hätte ich mich in ein Cyber-Forum eingeloggt. Viel zu viel Leute, die sich darüber definierten, wie sie aussahen.
Die Lobby selbst war dafür eine ausgezeichnete Bühne: Die Einrichtung war zweifellos maßgeschneiderte Design-Arbeit, dabei aber so schlicht und zurückhaltend, dass sie auch aus einem beliebigen Möbeldiscounter stammen konnte. Sie verriet ihre edlere Abstammung nur durch die exquisite Materialwahl: Organisches Holz, Bezüge und Wandbehänge aus gekämmter Baumwolle, handpoliertes Metall. Manufakturarbeit, die jene winzigen Imperfektionen aufwies, die auf hochwertige menschliche Arbeit schließen ließ.
Entsprechend teuer kam mich der Aufenthalt im Hotel zu stehen: Ein weiterer Grund, warum ich dem Sicherheitschef kein Geld in den Rachen werfen wollte. Mein müdes Bestechungsbudget durfte kaum geneigt sein, ihn auf meine Seite zu ziehen.
Der Aufzug war innen verspiegelt. Der psychologische Effekt, sich selbst mit AR-Maskierung zu betrachten, ist grandios. Nur zäh widerstand ich der Versuchung, Grimassen zu schneiden und durch rasche Bewegungen die Leistungsfähigkeit der Technik zu testen. Die Darstellung war ohnehin makellos.
Am liebsten hätte ich mein eigenes originales Gesicht zur Schau getragen, aber der Security-Bonze hatte recht, es wäre nachteilig gewesen, mich so einfach zu erkennen zu geben. Wer als gesuchter Verbrecher unterwegs ist, wird sicher irgendeinen Software-Agenten darauf ansetzen, Undercover-Cops, EuPol-Agenten und registrierte Privatermittler zu erspähen und bei Sichtung Alarm zu schlagen.
Also schmückte ich mich mit einem Allerwelts-Filmstar-Gesicht. Glatter rasiert als ich, wesentlich weniger Krähenfüße an den Augen, volleres Haar. Die Implantationsnarbe des alten VR-Suits war ebenso verschwunden wie der größte Teil der Melaninflecken und das besonders dunkle Muttermal am Kinn, welches jede Krebs-Screening-Software zum Ausrasten brachte. Stattdessen hatte ich mir eine dominantere Kieferlinie gegönnt und die Position meiner Augen symmetrischer gestaltet. Wenig kreativ, aber wirksam. Meine Mutter – sei sie selig – hätte mich nicht mehr erkannt.
Ich schlurfte zu meinem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Leider konnte mir niemand mehr die Illusion bieten, ich hätte damit so etwas wie Privatsphäre zurückgewonnen. Wenn die Hotelbetreiber mir nachspionieren wollten, würden sie das überall tun. Zumindest aber wurde ich nicht mehr durch die Anwesenheit anderer Menschen belästigt.
Ich packte meine Tasche aus: Sie enthielt einige ausgedruckte Daten, Informationen zum Hotel und meinem Ziel, die ich keinem digitalen Datenträger anvertrauen würde. Ebenso mein Notizbuch: Wer hätte gedacht, dass die seltene Fähigkeit, handschriftliche Gedanken zu formulieren, so eine Renaissance erfahren würde?
Ansonsten waren noch ein paar Gadgets dabei, Toilettenartikel, Kleidung für unterschiedliche Anlässe und sonst nichts. Ich hatte mein High-Tech-Agentenausrüstung zu Hause gelassen, gemeinsam mit dem Fingerabdruckpulver, der Lupe und der karierten Mütze. Man glaubt kaum, mit was für Klischees man als Privatermittler mitunter konfrontiert wird.
In Vorbereitung auf den Job hatte ich Erkundigungen über das Hotel eingezogen und sogar einen getarnten Spionagebesuch finanziert. Deswegen kannte ich die Sicherheitsvorkehrungen und auch die Augmented-Reality-Macke der Betreiber. Leider war mit technischen Mitteln gegen die AR wirklich nicht viel zu erreichen. Eine analoge Kamera hätte vielleicht noch geholfen, irgendein altes Modell, das von der Überwachung nicht erkannt worden wäre. Aber auch so ein Gerät hätte ich durch den Check-In schmuggeln müssen. Und die Anforderungen an die Bilder waren zu hoch, um irgendein x-beliebiges miniaturisiertes Gerät zu nutzen. Dazu hätte ich wirklich Spionage-Werkzeuge nutzen müssen.
Der Fotoapparat in der Zigarettenschachtel: Die Lösung des 20. Jahrhunderts für Probleme des 21. Jahrhunderts. Um so ein Ding aufzutreiben oder auf die Schnelle zu drucken, genügte die Zeit nicht. Leider. Immer schärfer wurde mir bewusst, wie aufgeschmissen ich war, wenn ich mein Ziel nicht deanonymisieren konnte.
Ich begann, in meinem Zimmer auf und ab zu laufen. AR war zwar ein nettes Werkzeug, aber ich bevorzugte immer noch altmodische Informationstechnik. Bis zum Ende meiner Arbeitszulassung als Lehrer hatte ich mich etlichen Neuerungen verweigert und kämpfte noch immer mit dieser Nachlässigkeit. Während Kollegen schon virtuelle Klassenzimmer bezogen und die Schüler mit hochrealistischen Streifzügen durch unser Universum unterhielten, schwor ich immer noch auf digitale Tafel, Tablets und interaktive Arbeitstische. In den letzten Jahren hatte ich die letzten funktionierenden Einheiten aus mehreren Schulen zusammengeklaubt, um den Unterricht weiterhin auf meine Weise gestalten zu können.
Die Umstellung bei meinem Eintritt ins zweite Arbeitsleben war hart. Private Ermittler und Kopfgeldjäger verließen sich fast völlig auf die Unterstützung durch filigrane Expertensysteme, lizenzierte Software und Beratungskonstrukte, die ursprünglich für den Einsatz bei Polizei und Behörden gedacht waren. Und dann kam ich und dilettierte als Virtualitätsfeind vor mich hin, bis ich meine Nische mit viel Laufarbeit, persönlichen Kontakten und harten Verfolgungsjobs erkämpft hatte. Ich war eine Art Anti-Cyber-Fossil. Ein Fußgänger beim Drohnenrennen.
Jetzt hatte ich mich auch noch in Reminiszenzen verloren und immer noch nichts zustande gebracht. Zeit, mein gesammeltes Material aufzuarbeiten und die Anonymisierungsmethode zu untersuchen. Vielleicht war sie einfacher gestrickt als behauptet.
Ich zog mein Tablet hervor und rief einen Kontakt an, der mehr von der Materie verstand als ich: JGF. Ich vermute, das Handle stand für Johann Georg Faust. Indizien dafür gab es nicht, aber die Idee gefiel mir.
„Ich schicke dir meine Aufnahmen und werde den Link nutzen, um live weiter nachzuliefern. Der Security-Häuptling hat mir schon mit Rausschmiss gedroht, falls ich technische Umgehungen der Anonymisierung probiere, also halten wir es lieber kurz. Brauchst du noch besondere Daten?“
„Bis jetzt kann ich das noch nicht sagen. Die Scrambling-Formate sehen nicht so aus, als würden sie zu üblichen Standard-Prozeduren gehören. Zumindest erkennt mein Tool keine Muster. Wahrscheinlich nutzt dein Casino wirklich eine eigene Lösung. Das könnte gut oder schlecht sein. Gut, wenn sie was Billiges und Fehlerhaftes geflickschustert haben, schlecht, wenn im IT-Bereich ein Könner sitzt.“
„Mach mir keine Hoffnung.“
„Geh erstmal auf die Pirsch. Vielleicht läuft dir deine Freundin ja zufällig vor die Füße.“
„Sie ist seit über einem Jahr zur Fahndung ausgeschrieben. Ich fürchte, für dumme Fehler ist sie zu clever.“
„Ich glaube ja, du hättest bessere Chancen mit einer simplen Kamera ohne AR-Verknüpfung gehabt. Irgendeine altmodische Tech.“
„Das Risiko konnte ich nicht eingehen.“
„Kannst du nicht einen Portier oder Pagen schmieren?“
„Wird schwierig. Der Sicherheitschef hat mich garantiert auf eine No-Tip-List gesetzt. Die Angestellten in Casinos werden mindestens so stark überwacht wie die Gäste.“
„Dann musst du deine Zeit gut nutzen.“
Danke für den Tipp, das hätte ich nie gedacht. Die Luft im Zimmer – perfekt klimatisiert – war mir plötzlich zu stickig. Also zum Aufzug und runter, an die Bar. Wie bei jedem guten Casino gab es keinen Bezug zur Außenwelt. Die Fenster waren zugemauert oder verhängt, im Falle der Bar gab eine großformatige Display-Folie altmodische Frachthafen-Romantik wieder. Man konnte zum Drink großen Elbkähnen beim Anlegen, Beladen oder Löschen der Ladung zusehen, dazu allerlei buntes Treiben von Flaneuren, Matrosen und anderem Kitsch. Mit der Realität von Hafenarbeit hatte das nichts zu tun.
Neben der Barfrau, die meine Bestellung wortlos lächelnd entgegennahm und prompt bediente, befanden sich noch gut zwei Dutzend Gäste im Raum. Viele nutzten die Bar zum Abspannen, aber zwei Pärchen waren in lebhafte Diskussionen vertieft. Hatten sie zu viel verspielt? Das Budget überreizt? Oder planten sie den nächsten Coup am Pokertisch?
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen und scannte alle Gesichter. Die Mehrheit trug Facemods ohne Anonymisierung – diese Gäste konnte ich von der Liste streichen. Prompt entwickelte sich ein Plan: Im Notfall musste ich nach dem Ausschlussprinzip vorgehen und die Gruppe potenzieller Ziele immer weiter ausdünnen.
Einer Intuition folgend probierte ich einen weiteren Trick und hatte prompt Erfolg. Nicht wenige der Anwesenden hatten Kanäle offen, um Interessierten für Techtelmechtel eine Liste ihrer Kinks, Maße und Sonderbedingungen anzubieten. Einige davon zierten diese Profile mit Video-, Audio- oder Bildaufnahmen, um sich von der besten Seite zu präsentieren. Natürlich waren auch diese Schnipsel hart bearbeitet und geschönt, blieben dabei aber dem Vorbild treu genug, um nicht als Anonymisierung zu wirken.
Dies ermöglichte mir eine weitere Reduktion des Zielpools. Ich schlürfte meinen Drink – ein alkoholbitterer Angriff auf meine Geschmacksknospen, dessen Namen ich gleich wieder vergaß. Unterdessen aktivierte ich einen kleinen AR-Annotationsagenten, der über dem Kopf jeder Person in meinem Blickfeld ein markantes Symbol einblendete. Denjenigen, die ich schon aus dem Kreis der möglichen Jarmilas eliminiert hatte, musste ich mich gar nicht weiter widmen. Das war in etwa die höchste Stufe meiner IT-Kunstfertigkeit.
Einige weitere Kriterien, die ich wie im Flug hinzufügte, engten die Auswahl weiter ein. Schon befand sich in der Lounge nur noch eine einzelne junge Frau, die überhaupt infrage kam. Und die war einfach zu kurz. Laut Dossier maß Jarmila Mašková stolze 1,82 – anders als die süße Kleine im kleinen Schwarzen.
Wenn das so weiterging, hatte ich gute Chancen, mein Ziel rechtzeitig zu entdecken.
„Herr Weber, stellen Sie sofort den Feed ein. Ich war doch deutlich in meiner Aufforderung, keine technische Umgehung der Anonymisierung zu versuchen.“
Der Haustroll hatte sich bei mir eingeklinkt und projizierte sein in Missfallen versteinertes Gesicht in mein Blickfeld. Videoanrufe per Tablet waren schon nervig, aber ich hasste es mit noch ganz anderer Herzlichkeit, wenn sich jemand in mein AR-System drängte. Selbst das Schließen der Augen rettet dich dann nicht vor der Fratze von Tante Elfie oder in meinem Fall vor dem humorlosen Starren des Securitychefs.
Da ich eine sofortige Reaktion schuldig blieb, verschärfte er seine Ansage: „Sie waren gewarnt und dies ist Ihre letzte Chance. Wenn Sie weiter Aufnahmen aus unserem Haus in andere Domains streamen, entferne ich Sie aus dem Objekt.“
„Schon gut. Ich gestehe. Sehen Sie mir nach, dass ich aus professioneller Neugier Ihre Vigilanz testen musste. Wird nicht wieder vorkommen.“
Ich beendete die Übertragung mit einer kurzen Mitteilung an JGF. Scheiße gelaufen. Selbst wenn er mit den spärlichen Daten eine Methode zur Deanonymisierung finden würde, könnte ich sie wohl nicht mehr anwenden. Mein Verlangen nach einem neuen Drink vervielfachte sich.
Immerhin konnte mir niemand die Nutzung meiner internen Liste und der Eliminationskriterien nachweisen oder vorwerfen. Wenn das Casino mir meinen Job völlig unmöglich machen wollte, hätte man mir die Kopfgeldjagd einfach untersagen können. Dies war also die einzige Route, die mir derzeit noch blieb – und ich hatte vor, sie weiter zu beschreiten.
Stück für Stück erkundete ich das Gebäude und stellte dabei fest, dass der Spa-Bereich trotz der mittäglichen Tageszeit gut besucht war. Die Vermischung von Luxus-Hotel und Casino diente natürlich nur dazu, zahlkräftiges Publikum anzulocken. Aber es funktionierte – das musste man dem Betreiber lassen.
Die Wellness-Oase bot einige ganz traditionelle und etliche High-Tech-Anwendungen, die meisten davon sogar im Zimmerpreis inbegriffen. Ich begann mit der Sauna und erfreute mich innerlich wieder einmal an der Irrationalität so mancher Besucher. So genannte modesty filter zur Ausblendung von intimen Körperteilen wurden genutzt und mit breitem Pinsel aufgetragen.
Dabei stellte das Casino auch hier die Server-Plattform für diese Zensurvariante zur Verfügung: Verknüpft mit meiner Schnittstelle für augmentierte Realität spielte es die Filter und Masken ein, die sich in meiner Wahrnehmung untrennbar mit dem physischen durch die optischen Rezeptoren meiner Augen wahrgenommenen Bild verbanden. So entstand die finale Version des Gesehenen erst in den Nervenbahnen meines Gehirns.
Durch die Verbindung wurde auch die Authentizität der angewendeten Veränderungen geprüft: Sie vorher abzufangen und vor der Anwendung zu editieren, etwa um eine Anonymisierung zu entfernen, war auch nicht möglich, ohne dass die Security es bemerkte. Zumindest: Mir war es nicht möglich. Es gab da draußen mit großer Wahrscheinlichkeit Cracks, für die auch diese raffinierte Technologie mit einem mentalen Fingerschnippen umgangen wäre. Selbst gehörte ich nicht dazu und konnte mir auch keinen solchen Cyber-Geek als Helfer leisten.
Sicherlich war schon der Begriff „Cyber-Geek“ so obsolet, dass er meine Unkenntnis unmittelbar preisgab.
Die ultimative Verfügbarkeit von Pornographie in Zusammenhang mit dem durch AR- und VR-Technologie möglichen Grad an Realismus hätte meiner Meinung nach das Ende der Prüderie bedeuten müssen. Doch weit gefehlt. Obwohl Studien zufolge 75 % aller Erwachsenen in Europa einen mehr oder weniger offenen Account bei Spontan-Fick-Marktplätzen, Partnertauschagenturen oder virtuellen Sexplattformen unterhielten: In der Öffentlichkeit wurde wenig Haut gezeigt. Werbung durfte zwar auch für Sexarbeit und damit verwandte Dienstleistungen gemacht werden, aber außerhalb der Branche zeigte man sich lieber hochgeschlossen.
Meine Theorie dazu lautete: Sex war so leicht verfügbar und auch für wenig privilegierte Menschen alltäglich, dass es sich nicht mehr lohnte, Fleisch und Reize öffentlich zur Schau zu stellen. Die Paradoxie beruhte nicht etwa in einer Renaissance puritanischer Moral, sondern der Übersättigung des Marktes. Deswegen feierten Verhüllungskünstler, verfremdende Kleidungslabels und biedermeierliche Etikette Hochstand. Man zeichnete sich dadurch aus, nicht alles öffentlich preiszugeben, und bemühte sich um das Geheimnisvolle, Versteckte.
Auch das war für mich eine banale Mode, die irgendwann wieder vorbei sein würde. Ich verzichtete auf die Zensur äußerlich sichtbarer Organe, setzte ich aber zumindest nicht ganz so breitbeinig auf die Saunabank wie einige andere Prachtexemplare der Menschheit. Zwar konnte ich auch beim Schwitzen wieder ein wenig selektieren, aber die einzelnen Hitzekabinen boten zu wenig Platz und Publikumsverkehr, um nennenswerte Fortschritte zu verzeichnen.
Und ich konnte bei aller Sympathie für FKK auch nicht die Tür jedes einzelnen Saunaraums aufreißen und für einen kurzen Scan hineinspähen.
Der Erholungsbereich war jedoch weitläufig und bot noch zahlreiche andere Behandlungen. Ich kostete den größten Teil davon aus und sondierte weiter vor mich hin, unentschlossen, ob ich größere und gewinnbringendere Anstrengungen übersah.
Laut Dossier lag Mašková in ihrer Präsentation eindeutig im weiblichen Spektrum und hatte sich immer als Frau identifiziert. Ich entschied mich also, alle Personen auszuschließen, die ich als männlich annahm. Klar konnte ich damit auch falsch liegen, aber ein gewisses Risiko musste ich mittlerweile in Kauf nehmen.
Immer wieder stieß ich auf Menschen, die ich nicht so einfach aussortieren konnte. Im Gegenteil: Mehrere Eigenschaften überschnitten sich mit den Daten des Dossiers. Also legte ich eine weitere Listenkategorie an und steckte die Positivkandidatinnen hinein. Diese würde ich einer späteren genaueren Überprüfung unterziehen müssen. Wie ich das tun wollte? Vielleicht könnte ich sie auf Tschechisch ansprechen und schauen, ob sie eine Übersetzungspause benötigten oder unmittelbar antworteten? Sollte ich sie in ein Gespräch über Biotechnologie oder tschechisches Bier verwickeln? Mašková war Hobby-Anglerin – eventuell war sie dazu aufgelegt, über gute und gesunde Angelplätze zu fachsimpeln?
Nein, das Risiko, meine Deckung voreilig aufzugeben, war viel zu groß. Idealerweise kontaktiert man sein Ziel bei der Kopfgeldjagd erst mit dem Anlegen der Handschellen und des Netzwerkblockers.
Halb in Gedanken versunken schlenderte ich durch die etwas exotischeren Wellness-Angebote. Ich ließ mir in einem Salzwassertank die Haut von Fischen sauberlecken – zumindest war das in etwa mein Verständnis vom Prinzip der Wirkung. Dann folgten Enzymbehandlungen für Haare, Hände und Füße, Hornhaut und Schleimhäute, eine Irisreinigung per Laser, ergänzt von einer raschen Kryotherapie für eine Warze.
Das Personal war professionell und zuvorkommend, dennoch kam ich mir vor, als würde ich wie an einem Fließband abgefertigt. Immer konnte ich weitere Studien der anderen Gäste anfertigen.
Höhepunkt der Veranstaltung war eine Facemod-Typberatung. Ausgerechnet! Wahrscheinlich hatte das Casino doch eine hochwertige Lizenz erworben und schlachtete deren Nutzen nun nach allen Regeln der Kunst aus.
Die junge Person ersparte mir die Nachfrage mittels AR-Einblendung: „Keine Pronomen, einfach Chris“. Tja, nichts leichter als das. Chris wurde durch eine pseudointelligente Beratungssoftware unterstützt, die meine Gesichtsstruktur analysierte und Vorschläge unterbreitete, wie ich mein Äußeres noch optimieren könnte.
Eigentlich war ich dafür ein zu alter Knochen, aber immerhin verstand Chris es, mich durch Komplimente und Smalltalk geschmeidig genug zu halten, damit ich nicht einfach aufstand und davonlief.
„Wie ist es eigentlich dazu gekommen?“, philosophierte ich.
„Wozu?“
„Dass wir unser Äußeres nicht akzeptieren, sondern hinter AR-Mods verstecken.“
„Wir verstecken doch nichts. Persönlich denke ich, dass man mit zurückhaltenden Optionen viel mehr erreichen kann als durch künstlich modellierte Gesichtsanatomie. Betonen, was vorhanden ist. Schönes unterstreichen und den eigenen Charakter schärfen.“
Chris rief eine Spiegelung meiner aktuellen Facemod auf.
„Ein freundliches Durchschnittsgesicht als Maske. Ich kann den Wunsch nach Anonymität verstehen. Haben Sie auch eine Mod, die Sie nutzen, wenn Sie Ihre Identität nicht verschleiern wollen?“
Ich spürte kein doppeltes Spiel. Chris machte einfach einen guten Job und wollte die Beratung nicht an das banale Filmstargesicht verschwenden, das ich als Tarnung nutzte. Ich zögerte nur kurz, dann schickte ich eine Version meines eigenen Gesichts herüber, an der ich früher schon getüftelt hatte, ohne allzuviel Gefallen daran zu finden.
„Besser, Sie haben auf aufwändige und artifizielle Mods verzichtet. Das halte ich für ein ausdrucksvolles Statement. Sagen Sie nichts, ich verstehe schon: Zu wilde Überblendungen sind nicht Ihr Stil. Damit kann man hervorragend arbeiten. Ich mache Ihnen am besten ein paar Vorschläge, wie Sie die bisherige Richtung nur noch ein wenig optimieren können.“
Ich war ehrlich überrascht.
Statt mich mit mäßig interessanten Standards zu langweilen, spielte Chris subtile Veränderungen ein, die die von mir gewählten Mods wesentlich lebendiger wirken ließen. Chris begeisterte sich für die technischen Details des Gesichtsmappings und diverser philosophischer und kunsthistorischer Ansätze zur Definition von Schönheit. Chris erklärte mir eine persönliche Synthese-Theorie, mit deren Hilfe Chris glaubte, objektive Verbesserungen am Äußeren von Menschen vornehmen zu können. Ich verstand kaum ein Wort, sah aber am Ergebnis der kreativen Veränderungen, dass die Idee hielt, was sie versprach. Es sah einfach besser aus. Und vielleicht sogar noch mehr nach mir, als ich je zuvor ausgesehen hatte.
„Nehmen viele Gäste diese Dienste in Anspruch?“
„Eigentlich nicht. Das Fatale ist, dass die meisten immer noch der Meinung sind, selbst am besten zu wissen, was gut und schön ist, sich aber mit der technischen Umsetzung und vor allem Dosierung kaum auseinandersetzen.“
Neugierig musterte ich Chris‘ Gesicht: Es war keine Modifikation auszumachen. Fast wie bei dem früheren Ideal, dass man das beste Makeup daran erkannte, es nicht zu erkennen.
„Sie haben sich selbst auch gemoddet?“
„Natürlich. Besonders mit meiner angeborenen Nase bin ich eher unzufrieden. War eine lange Arbeit, sie in den jetzigen Zustand zu versetzen.“
„Das glaube ich gerne. Wie geht diese Arbeit eigentlich mit dem Wunsch mancher Gäste nach Anonymität konform?“
„Leider gar nicht. Entweder man wünscht sich individuelle Schönheit oder das Verschwinden in der Menge. Beziehungsweise die Maskierung mit extravaganten Mods.“
Eine Spur Unzufriedenheit? Kritik an der Hauspolitik etwa? Jemand wie Chris, der die Finessen und Ästhetik personalisierter Facemods zu schätzen wusste, kannte sich bestimmt mit dem System aus. Eine Ressource, auf die ich vielleicht zurückkommen musste.
„Sie haben mir sehr geholfen. Wie lassen sich diese Templates auf andere Facemod-Anwendungen übertragen?“
„Oh, gar kein Problem. Ich stelle Ihnen am Ende der Sitzung eine Kollektion der üblichen Formate zusammen, die können Sie dann in praktisch jedes System einspielen.“
Bingo. Das könnte mich weiterbringen. Aber durfte ich es wagen, mit den Dateien herumzuspielen, um mehr über die Verschleierungstechnik des Hotels zu erfahren? Besser jetzt noch keinen Rauswurf riskieren. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, Spa und Bar zu erkunden. Ich experimentierte auch vorsichtig mit einer Entschlüsselung der Mods, gab aber rasch auf. Eine technische Lösung ohne äußere Unterstützung und ohne dass der Admin des Hotels auf mich aufmerksam wurde? Unwahrscheinlich.
Der erste Tag war zwar reich an neuen Gesichtern – nicht nur in meiner Datenbank, sondern auch persönlich – aber hatte keine entscheidenden Fortschritte gebracht. Zudem nagte an mir das Gefühl, dass ich einen Teil meiner Arbeit an Tagesgäste und Gelegenheitsbesucher verschwendet hatte, die ich im Casino niemals wiedersehen würde. Dazu kam, dass ich zwar den Zeitpunkt des Treffens meines Ziels mit ihrem Kontakt kannte, aber nicht wusste, wie lange Mašková sich überhaupt hier aufhalten wollte. Checkte sie erst am Tag der Zusammenkunft ein und verließ sie den Laden anschließend sofort wieder, verkleinerte dies mein Zeitfenster für einen Zugriff enorm. Was also tun?
Während ich mit Einschlafen kämpfte, kam mir eine Idee, die zumindest einen möglichen Ansatz zur Verbesserung meiner Chancen enthielt: Ich sollte mich nicht allein auf die Terroristin konzentrieren, sondern auch auf ihren Kontakt.
Irgendwann war ich dann doch eingeschlafen. Dabei konnte ich sogar auf die Unterstützung meines AR-Meditationsprogramms verzichten. Das Bett, die Klimatisierung des Raumes und optimierte Lichtstimmungen hatten Wunder gewirkt und mich die Nacht über dem Stress des Jobs entfliehen lassen. Tatendurstig wachte ich auf, frühstückte im Restaurant und begab mich endlich ins eigentliche Casino.
Sofort wusste ich, warum ich diesen Besuch so lange herausgezögert hatte. Mein Unterbewusstsein hatte sich alle Mühe gegeben, mich vor diesem Ansturm an narzisstischem Kitsch zu schützen. Einblendungen für Spielaufforderungen, Kontaktsuche, Gewinnchancen und anderen degenerierten Blödsinn bestürmten mich schon zehn Meter vor der vergoldeten Tür in die Glücksspiel-Kommerz-Melkhalle. Quietschglückliche Triumphmärsche wechselten sich mit Video-Snippets seliger Gewinner und münzträchtiger Auszahlungen ab. Die rohe Gier, die den Menschen beim Einstreichen der glänzenden Casino-Coins abging, das selbstgefällige Grinsen der Croupiers und Manager, die ihren Gedanken, rein statistisch doch selber die Gewinner zu sein, kaum hinter der Fassade halten konnten. Bah.
Während ich dies erzähle, beschleicht mich das Gefühl, dass man mir meine Verachtung für dieses ganze unwürdige Spektakel anmerken könnte. Und wenn schon! Ich bin zu alt, um mir noch einen gesetzten Anschein zu geben. Der Gedanke, dass auch nur einer meiner Schüler jemals so blöde sein könnte, einen Fuß in solch ein Etablissement zu setzen, lässt mich schon aufstoßen. Die Gewissheit, dass es mehr als nur einer der meinen war, der dem billigen Kitzel schnellen, unverdienten Geldes erlag, ließ mich an dieser Gesellschaft verzweifeln. Wie dumm muss man sein, um zu glauben, dass man durch reines Glück irgendetwas geschenkt bekommt. Nie würde ich in dieser Beziehung heucheln.
Außer, es geht um den Job. Also strengte ich mich an, einen möglichst interessierten und offenen Ausdruck zur Schau zu tragen und höflich diverse Angebote zu studieren, während ich die Anwesenden scannte. Den sauren Geschmack spülte ich mit überteuertem Sekt herunter.
Es herrschte reges Treiben. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, eines der diversen Spiele auszuprobieren. Aber allein das Studium der diversen Haltungen, die die Besucher und Spieler einnahmen, erzählte mir viel.
Ich stand neben resignierten Süchtigen, die wie Zombies von Automat zu Automat wankten. Schicksalsergeben fütterten sie die Maschinen mit Casino-Coins, nahmen brav die mageren Gewinne entgegen und schlurften weiter, um noch mehr zu verlieren.
Übertrieben fröhliche Gruppen von Menschen tummelten sich um Kartentische oder Roulette-Angebote und feuerten Freunde oder Bekannte dazu an, noch schneller ihr Geld zu verbrennen. Diese Partytruppen machten einen erheblichen Teil des Publikums aus: Sie hatten sich offensichtlich vorgenommen, es richtig krachen zu lassen und in ihrem traurigen Leben nie eine andere Quelle für Freude gefunden als Konsum. Also huldigten sie mit rotwangigem Enthusiasmus der wahrscheinlich reinsten Form ziellosen Wertverzehrs.
Dann waren da noch einige professionelle Spieler: Konzentrierte und einsame Personen, die alle Angebote mieden, bei denen ein Verlust statistisch vorprogrammiert war. Meist fand man sie beim Poker, sie maßen sich aber auch in anderen Spielen, bei denen es auf Geschick, Konzentration, Selbstbeherrschung und Erfahrung ankam. Das war die Population, vor der ich noch den meisten Respekt in mir finden konnte. Sie zockten sich gegenseitig ab und lebten von den Amateuren, die sich in Selbstüberschätzung oder aus dumpfem Gaudium an ein paar Spielen gegen die Profis versuchten.
Sie waren auch der Grund für die übergriffigen Sicherheitskompetenzen: Das Haus musste in der Lage sein, digitale Hilfsmittel zuverlässig aufzuspüren, um unfaire Vorteile auszuschließen. Ich zweifelte nicht daran, dass es geheime Absprachen und Bündnisse des Casinos mit besonders bekannten und erfolgreichen Profis gab, um diesen schließlich doch kleine Freiheiten einzuräumen. Selbst würde ich in den Genuss dieser Autonomie nicht kommen.
In all diesen Gruppen fand ich wieder ein paar mögliche Zielindividuen, konnte die Menge aber nicht ausreichend eingrenzen. Doch bei meiner Suche nach dem Kontakt, dem Grund für Maškovás Anwesenheit, hatte ich etwas mehr Glück.
Denn eine Gruppe von Spielern hatte ich noch nicht beschrieben: Die High Roller. Die Pseudoprominenz der Casinos, diejenigen, die sich eine Vorzugsbehandlung im Etablissement damit erkauften, dass sie um unverschämte Summen spielten und dabei am Ende genauso zuverlässig verloren wie der Abschaum der Süchtigen. Der Gipfel des Narzissmus: Es ging ihnen nur darum, gesehen zu werden. Wenn ein Mensch so unverschämt reich ist, dass er es sich leisten kann, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er methodisch Geld verbrannte, dann war er der ideale High Roller.
Warum auch sonst sollte Mašková ausgerechnet in einem Casino nach einem Kontakt suchen? Das Dossier klärte das alles auf, ich hatte mich nur in meiner Suche nach ihrer Identität verrannt: Als Proteindesignerin war sie in eine Biotech-Dynastie hineingeboren und führte das zusammenfallende Imperium ihres Vaters auf Abwege. Eine Weile lang ging alles gut, doch mit der Freisetzung eines Pflanzenpathogens zur Beschädigung der Konkurrenz wurde sie plötzlich als Terroristin eingestuft. Dennoch war ihr Know-How wertvoll. Die einzige Chance, um sich mittelfristig vor dem EuPol-Zugriff zu schützen, war eine Allianz mit höheren Mächten: Dem Militärisch-Industriellen Komplex.
Und genau einen solchen Vertreter wollte sie im Casino treffen. Normalerweise waren diese Typen sehr auf ihre Privatsphäre bedacht. Man fand sie auf ihren Yachten, auf Ferien im Orbit oder in extraterritorialen Mini-Staaten, den Corporate Cities. Wer aber nicht ohne Publikum auskam, für den war diese Glücksspielhölle sicherlich das ideale Parkett.
Ich hatte einen ganzen Trupp entdeckt. Nicht alle hohe Funktionäre, nicht nur Top-Manager und Bonzen, aber genügend Geld und Militärkontakte auf einem Haufen, um einen afrikanischen Staat ins 21. Jahrhundert zu rüsten. Die Namen der Konzerne – irrelevant. In diesen Kreisen war Konkurrenz eher Formsache. Der Kuchen war mehr oder weniger verteilt und es gab genug fette Stücke, um ohne Dolche in der Nacht abkumpeln zu können.
Die meisten der Profile dieser Selbstdarsteller reichten vom privaten sozialen Netz bis in die Corporate Identity großer Firmen. Der Konzern bin ich.
So unauffällig wie möglich gesellte ich mich hinzu und interessierte mich oberflächlich für die Spiele, welche gespielt wurden. Die Gruppe wanderte von Tisch zu Tisch, machte Abstecher an die Casinobar und umkreiste schließlich ein Separée, in welchem heftig gepokert wurde. Wie reifes Aas zog sie dabei einen Schwarm von Kellnern, Croupiers, Casino-Bankstern und anderem Geschmeiß hinter sich her, der natürlich nur am Wohle der Gäste interessiert war. Ich erkannte auch mindestens drei Sexarbeiterinnen, die sich an teure Sakkos schmiegten, verschwörerisch in Ohren flüsterten, aufs richtige Stichwort hin übertrieben lachten und die Fachsimpeleien der Konzerner mit artigem Nicken begleiteten.
Spontan wurde ein Pokerturnier ausgerufen, das etliche Spieler anzog. Die ideale Gelegenheit für mich, näher an die Truppe zu geraten, während ich ein Agentensystem zu den einzelnen Rüstungsspezis mit Recherchen betraute. Der Einkauf in ihr Spiel kostete eine schmerzhafte Gebühr, zumal ich kaum Erfahrung im Pokern hatte. Softwarehilfe, um mich Anfänger nicht ganz so heftig bluten zu lassen? Keine Chance. Also musste ich in den sauren Apfel beißen und hoffen, dass diese High Roller ebenso wenig Ahnung hatten wie ich und das ganze Spiel nur der Selbstinszenierung diente.
Ehe ich mich versah, saß ich mit am Tisch und lauschte der Verkündung schwindelerregender Starteinsätze. Das konnte lustig werden.
Ich spielte nur mit einem Teil meiner Aufmerksamkeit an den Karten. Der Rest meines Geistes beschäftigte sich mit diversen Fragen rund um die anderen Spieler und ihre Begleiter. Würde Mašková es wagen, Zeit in der Entourage dieser hohen Tiere zu verbringen, um sich mit ihnen gemein zu machen? Oder suchte sie nach einem weiteren seriösen Treffen, bei welchem sie ihr Angebot unterbreitete und sich dann zurückzog?
Diese zweite Variante schien mir unwahrscheinlich. Immerhin hatte sie sich dazu aus der Deckung wagen müssen. Eher bemühte sie sich, die Sache gleich vor Ort unter Dach und Fach zu bringen. Ein erneutes Treffen verdoppelte das Risiko.
Gleichzeitig war meine oberflächliche Analyse der Gruppe beendet und ich hatte schon den größten Teil der Anwesenden aussortieren können. War das ein gutes Zeichen?
Dann das Pokerspiel: In den ersten beiden Runden hatte ich keine guten Karten – das zu erkennen war noch recht einfach. An einem Bluff versuchte ich mich am besten gar nicht erst. Auch wenn die Maskierungssoftware sicher meine Chancen verbessert hätte, einen solchen glaubwürdig zu verkaufen. Doch dieses Schwert schnitt in beide Richtungen: Es erschwerte mir auch, meine Mitspieler und deren Motivation zu lesen. Digitales Pokerface – was das der erwünschte Effekt einer Anonymisierungstechnik im Casino?
Da ich die Gesichter nicht lesen konnte, sah ich auf die Hände.
Die Hände! Ich Idiot! Sie verrieten so viel! Ohne die aufwändige Retexturierung in der augmentierten Wahrnehmung waren sie fast so gut wie die Gesichter. Was also erzählten mir die Handflächen, Finger, Handgelenke und der Schmuck der Anwesenden? Eine weitere Runde stieg ich zeitig aus und analysierte das Verhalten und die Struktur diese so aussagekräftigen Glieder.
Mindestens zwei der Anwesenden trugen regelmäßig einen Ehering, hatten ihn aber im Casino abgelegt. Waren sie auf der Suche nach spontanem Sex oder fürchteten Sie, das Band für die Ewigkeit in einem Anfall präfrontaler Umnachtung für Spielchips zu versetzen?
An zwei Händen erkannte ich Narben, die ich als Abwehrverletzungen kategorisieren würde. Wer sich gegen einen Messerangriff oder ähnliche Attacken verteidigt, trägt oft Schnittwunden davon, die gemein bluten und lebenslange Andenken hinterlassen. Es sei denn natürlich, man entscheidet sich für eine kosmetische Korrektur. Heute üblich und billig. Wer derartige Entstellungen quasi als Abzeichen trug, musste sich in einem sozialen Umfeld bewegen, in dem solche Narben üblich waren und entsprechend eingeordnet wurden.
Vierte Runde. Zwei Könige. Eine Chance, mitzugehen und nicht durch ständiges Passen aufzufallen. Fiel man nach vier Runden Passen bereits auf? Verdammt, ich hätte mich besser vorbereiten sollen.
Ich wurde beobachtet. Das teilte mir nicht nur meine Intuition mit – ich entdeckte auch, wer für dieses Gefühl den Ausschlag gab. Am Tisch und etwas abseits standen insgesamt drei Personen, die sich nur scheinbar dem sozialen Spiel rund um das Pokern hingaben und mich auffällig unauffällig im Blick behielten.
Hätte mir eigentlich klar sein sollen. Mein Einstieg in die Runde war so wenig auffällig wie bei den anderen Mitspielern, die nicht unmittelbar der Gruppe angehörten. Und bisher schlug ich mich nicht schlecht – nicht so schlimm wie der Aufschneider, der „all in“ ging, aufstand und mit offenem Mund zusehen musste, wie ich den aufgedeckten König anspielte, ein Full House abschloss und damit seine zwei Asse, die nur für zwei Paar genügten, schlug.
Soviel zum Thema unauffällig. Ich hatte den ersten Teilnehmer aus der Runde geworfen und wurde mit einigen zustimmenden Gesten, Kopfnicken und Kommentaren aus der Entourage der High Roller bedacht.
Direkt mir gegenüber standen in der Riege der Zuschauer zwei jener Typen, deren vernarbte Hände Bände sprachen. Sie unterhielten sich. Große, breitschultrige Kerle. Die Gesichter fachmännisch maskiert, aber es genügte, ihre Körpersprache zu lesen, um zu ahnen, dass ich keine neuen Fans gewonnen hatte.
Fünfte Runde. Ich passte und nutzte die Gelegenheit, die Anwesenden weiter unter die Lupe zu nehmen. Das Ausschlussverfahren dünnte die Menge potenzieller Ziele weiter aus. Die letzten drei Frauen unterzog ich nun einer genaueren Inspektion. Ich analysierte ihre Körpersprache, ihr Engagement im Spiel und den Gesamteindruck, den sie mir gaben. Alle trugen aufwändige Facemods, wirkten wie Supermodels – groß, schlank, perfekte Gesichter.
Die Erste stand schräg hinter einem der Spieler, die leicht als Militärlobbyisten erkennbar waren. Er bemühte sich nicht um Anonymisierung, sondern hatte sein Profil offen und zur Bewunderung durch die Casinomiezen eingestellt. Sie hielt die ganze Zeit über eine Hand auf seiner Schulter und drückte ihm ihre Brüste gegen den Oberarm. Die Dame war mittels Facemod verhüllt, schien jedoch keinen Wert darauf zu legen, ihren restlichen Körper zu beschönigen. Ein auffälliges Dreigestirn aus Leberflecken an ihrer Halsbeuge gab dann auch den entscheidenden Hinweis: Auf Bildern von Mašková waren mir solche Male nicht aufgefallen. Also konnte ich sie aussortieren.
Die Nächste war kniffeliger. Sie saß inmitten der Gruppe der High Roller und hielt gut mit. Ihr Umgang mit den anderen der Clique wirkte vertraut und auf Augenhöhe. Gleichzeitig unternahm sie keine aufreizenden Gesten, um auf ihren Körper aufmerksam zu machen. Sie trug teuren Schmuck und eine maßgeschneiderte Facemod, die ihr das Gesicht einer bekannten VR-Schauspielerin schenkte.
Mein Instinkt sagte mir, dass sie nicht diejenige war, die ich verfolgte. Dennoch fand ich keine Möglichkeit, sie aufgrund von Indizien auszuschließen. Ein harter Brocken.
Am Tisch saß auch die dritte Kandidatin. Ihr Habitus harmonierte nicht mit dem Rest der Gruppe. Dennoch war sie von Anfang an dabei gewesen. Aber sie pokerte und hielt sich sonst bedeckt, war also eher keine Sexworkerin oder sonst ein Teil der Entourage, der sein Geld zusammenhalten musste. Und sie sandte eine Menge Gesten und Blicke nur zu einem einzelnen der Militärbonzen am Tisch, der etwas schräg gegenüber von ihr saß. Ein seltsamer Fokus – aber deckungsgleich mit dem, was ich von meinem Ziel erwarten würde, wenn es sich mit einer Kontaktperson gutstellen wollte.
„Bist du etwa die von mir Gesuchte?“, fragte ich im Geiste. „Wie bringe ich dich wohl dazu, dein Geheimnis preiszugeben?“
Die meisten Anwesenden tranken beim Spiel und verströmten eine gute Laune und Lockerheit, die den hohen Einsätzen und der gebotenen Konzentration zuwiderliefen. Das alles passte natürlich zur großmännischen Haltung der High Roller. Denen ging es nicht ums Gewinnen. Auch ich hatte irgendwie im Verlauf des Spiels ein Glas Bier vor mich gestellt bekommen und trank ein wenig mit. Jetzt würde es mir als Ausrede dienen.
Der schöne Anzug! Aber das zählte nun nicht mehr. In einem Anfall schauspielerischer Hochleistung ließ ich das Gefäß beim Trinken aus meinen Fingern gleiten und besudelte meine Hose.
„Oh verfluchte Schei…“, begann ich, dann sah ich mich verschwörerisch in der Runde um. „Wenigstens habe ich Zeugen dafür, dass ich mir nicht eingepisst habe. Ha! Geht einfach davon aus, dass ich die nächste Runde auch passe – den Einsatz leg ich schon hier hin. Ich geh mich ganz schnell frischmachen.“
Damit stand ich unter dem Johlen der Anwesenden auf, schob mich an den anderen Spielern vorbei und tappte wie ein begossener Pudel in Richtung Toiletten.
Jetzt musste es schnell gehen. Im Vorbeigehen hatte ich die beiden Verdächtigen jeweils mit einem präparierten Folientester gestreift. Die durchsichtigen Filme lagen praktisch unsichtbar auf meiner Hand. Ihre Aufgabe: Hautzellen vom Ziel aufnehmen und für eine Analyse vorbereiten.
Ich verschwand in einem Kloabteil, peinlich darauf bedacht, nichts Weiteres mit den Folien zu berühren. Nun musste ich nur noch die entsprechenden Gegenseiten auspacken, ohne sie zu kontaminieren und pappte die Probefilme auf ihre Testkits.
Die DNA-Probe von Jarmila Mašková hatte mich eine Stange Geld und viel Kontaktarbeit gekostet. Europol war zwar in der Lage gewesen, ein paar Hautschuppen der Verdächtigen einzusammeln, aber nicht die Frau selbst. Nun aber zeigte die Vorarbeit ihren Wert: Eine der mit Maškovás Code präparierten Testfolien färbte sich grün. Treffer. Mein Bauchgefühl erwies sich als korrekt. Es war die Dritte gewesen.
Meine Hose völlig vergessend eilte ich nach draußen und zurück zum Pokertisch. Die Euphorie über die Bestätigung meiner Schlussfolgerungen beflügelte mich. Einmal korrekt identifiziert würde auch die AR-Verschleierung die Gesuchte nicht mehr retten. Nimm das, moderne Technik! Nimm das, nagender Selbstzweifel. Altes Eisen? Ha! Glänzender Stahl!
Drei Schritte vom Tisch entfernt, konnte ich es nicht länger halten. Ich rief: „Frau Mašková! Sie sind eine international gesuchte Terroristin. Hiermit führe ich eine vorläufige Festnahme nach Jedermannsrecht durch.“
Die Angesprochene blickte mich direkt an, während um sie herum Unruhe ausbrach. Jarmila Mašková zeigte keine weitere Regung. Sie beobachtete mich still.
„Hiergeblieben, Herr Weber. Wir lassen nicht zu, dass sie unsere Gäste weiter belästigen.“
Ich blickte mich erschrocken um: „Wie bitte?“
Vor mir hatte sich der Sicherheitspascha aufgebaut, flankiert von den beiden Schlägern, die mir schon beim Spiel aufgefallen waren. Mein Gefühl, beobachtet zu werden, hatte mich nicht getäuscht. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, jetzt schon abgefangen zu werden.
„Jetzt lassen sie mich durch, es ist doch noch gar nichts passiert.“, versuchte ich es.
Inzwischen erschienen weitere Sicherheitsleute diverser Geschlechter aber allesamt in derselben großzügigen Gussform geformt.
Der Chef der Truppe schüttelte den Kopf. „Wir lassen es nicht dazu kommen, dass sie das Spiel weiter stören. Ihr Gewinn wird Ihnen auf das Konto überwiesen, das sie beim Check-In angegeben haben. Das Zimmer lassen wir gerade räumen, Sie erhalten alle Ihre Sachen beim Verlassen unseres Hauses ausgehändigt. Kommen Sie jetzt mit.“
„Was für ein banales Spiel sie hier mit mir spielen.“, schoss ich eine Kostprobe meines Zorns ab. „Ich habe Beweise dafür, dass Sie eine gesuchte Terroristin unter Ihren Gästen haben. Sie behindern die Festnahme einer international …“
„Schluss jetzt.“
Die Preisboxer-Armee rückte zwei bedrohliche Schritte auf.
„Ihre ganze Maskierungsmasche hat nichts genützt. Ich weiß genau, unter welcher Identität Sie hier ist. Hier, der DNA-Nachweis! Eindeutig!“
„Jaja.“
Sie schoben mich nach draußen, wie ich es selbst oft genug mit vorlauten Zwölfjährigen gemacht habe.
„Das wird Konsequenzen haben!“, schnaufte ich den Fluch der unterlegenen Bildungsbürger.
„Hiermit erteile ich Ihnen lebenslanges Hausverbot. Es gibt dagegen keine Rechtsmittel. Es liegt in unserem guten Recht, die Privatsphäre unserer Gäste zu schützen. Hier, ihr Koffer. Guten Tag.“
Wie dumm. Wie entsetzlich dumm. All das Trara – dabei hätte er mich gleich zu Beginn daran hindern können, das Hotel zu betreten.
Was war meine Fehlannahme gewesen? Wahrscheinlich die, dass ich frei arbeiten könnte, solange ich mich an die verkündeten Regeln hielt. Hätte ich ihn schmieren sollen? Wahrscheinlich hätten Mašková oder ihr Kontaktmann mich lachend überboten.
Nein, ich wusste schon, was ich falsch gemacht hatte. Ich dachte, dass ich hier nur meine Beharrlichkeit und Intellekt unter Beweis stellen musste. Dass der Pöbel von meiner Überlegenheit geblendet klein bei gäbe. Dass ich mich durchsetzte, weil ich im Recht war.
Herr Weber, so alt schon und du hast noch so viel zu lernen.
Ich nahm mir ein Zimmer in einer Absteige schräg gegenüber und legte mich auf die Lauer. Irgendwann musste mein Ziel das Hotel schließlich wieder verlassen.

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Kurzgeschichte: „Spuren im Wald“

CN: Dies ist eine Science-Fiction-Horrorgeschichte, es kommen detaillierte Beschreibungen diverser Todesarten vor; außerdem enthält die Story eine detaillierte Schilderung einer Panikattacke

“Ich wusste nicht, dass es schon so übel aussieht.”, sagte Körber.
Sich zersetzende Baumleichen lagen wie riesige Mikadostäbe über den ehemaligen Waldboden verteilt. Sie waren überzogen mit den Überresten des Teerpilzes in verschiedenen Stadien der Verwesung. Hier und da rankten Brombeeren, Winden und andere schnellwüchsige Kletterer über das geschwärzte Holz.
Einige besonders mächtige Bäume waren stehengeblieben und trotzten bislang allen Stürmen. Sie stellten aber kaum mehr als die skelettierten Mahnmale der Katastrophe dar. Die meisten ihrer Zweige und dünneren Äste waren weggebrochen, die Rinde abgeschält vom schleimigen Mycel des Erregers. Dieser sprengte im letzten Stadium des Befalls die Haut seines Opfers, um Billionen von Sporen in die Luft abzugeben, auf der Suche nach dem nächsten Wirt.
Der Fortpflanzungsdruck des Teerpilzes war so gewaltig, dass die schwarzen Partikel an vielen Stellen wie Kohlestaub dichte Matten bildeten. Wer zu viel der in der Luft schwebenden Pilzteilchen einatmete, riskierte Allergien oder Schlimmeres, weshalb der gesamte Spähtrupp Gesichtsmasken trug, deren Abdrücke sich noch Stunden später an Stirn und den Rändern der Wangen abzeichnen würden. Die Windstille ermöglichte Körber und seinem Team, auf die mitgeführte Atemluft zu verzichten und sich den Filtern anzuvertrauen. Sollte jedoch bewegteres Wetter auftreten und Sporen aufwirbeln, wären die Kartuschen bald zugesetzt und wirkungslos.
“Du kommst wohl nicht oft raus?”, fragte Frahm, Körbers Assistent.
“Nee, sehe gar keinen Grund dazu. Ich hab gehört, dass es bei Regen wesentlich schlimmer sein soll.”
“Am übelsten ist es danach. Dann verwandelt sich die Kruste auf den Bäumen in klebrigen Schleim. Wenn du ihn berührst, zieht er zentimeterlange Fäden, alles voll von den Sporen. Wenn du mich fragst, sollte man das alles niederbrennen und danach komplett neu einsäen.”
“Hat man versucht.”, schaltete sich die helle Stimme der einzigen Frau im Team ein. Sami Okonjo war als Expertin für biologische Spuren herangezogen worden. Sie wusste, wovon sie sprach: Die Forensikerin engagierte sich nach Dienstschluss im NABU – oder dem, was davon übrig war.
“Und?”
“Um alle Sporen zu erwischen, müsstest du die obere Bodenschicht so stark erhitzen, dass sämtliche Mikroflora draufgeht. Jede Art von Bodenleben wäre hinüber. Für ein funktionierendes Ökosystem brauchst du aber ein riesiges Netzwerk unterschiedlichster Arten, die Nährstoffe verfügbar machen, abgestorbenes Material abbauen, Giftstoffe binden und Pflanzen als Partner für Symbiosen zur Verfügung stehen.”
“Da gab es doch dieses Buch, wo einer auf dem Mond Kartoffeln …”, warf Körber ein.
“Auf dem Mars!”, korrigierte Frahm.
“Ganz so einfach ist das nicht. Der Marsianer hatte eine Menge menschliche Kacke, um seinen Boden zu düngen. Und er musste nur eine einzelne Ernte einbringen. Eine nachhaltige Bodenbiologie ist ein bisschen komplexer und du musst …”
“Ja, schon gut, ich glaubs dir. Am Ende ist das eine Frage der Kosten. Wir reden ja nicht nur von einem Hektar, sondern, äh, wie viel nochmal?”
“Etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands besteht aus Waldgebieten, in Europa sind es sogar noch einige Prozent mehr. Davon ist aktuell ein Drittel befallen, der Rest wird folgen. Im Moment reden wir vom 250-fachen des Saarlands.”
“Scheiße.”
Sie schwiegen und bewegten sich weiter vorwärts. Auf dem Satellitenbild sah der geplante Pfad wenig kompliziert aus, aber die Navigation durch den krepierenden Wald war beschwerlich. Körber hatte darauf bestanden, in einiger Entfernung vom Ziel abgesetzt zu werden, um das Objekt in Ruhe untersuchen zu können.
Der Trupp bestand insgesamt aus 6 Beamten, allerdings war Körber der Einzige mit Mantrailing-Erfahrung. Seinen belgischen Schäferhund Dixie musste er zurücklassen. Zwar gab es auch Masken für Tiere, aber sie machten das Erfassen von Spuren unmöglich.
Immer wieder entglitt ihm der Fokus auf die Aufgabe. Während sie sich einen Weg bahnten, bestaunte er die geschwärzten Stämme und den Kampf der Natur gegen sich selbst. Beinahe körperlich war die Anstrengung, als er sich vom stummen Starren ermannte und sagte: “Was sagt das Netz?”
Frahm blickte ins Leere, während er die Informationen prüfte. “Keine Spur. Wahrscheinlich haben sie eine eigene kleine Struktur aufgebaut, ohne Verbindung zum öffentlichen Netz.”
“Funksignale?”
“Gar nichts. Entweder arbeiten sie mit optischen Hubs oder verwenden nur Kabel. Nach ihrer Ansprache bei Weng-Bosch könnte man meinen, das sind alles zurückgebliebene Hirnis.”
“Quatsch, die haben das Netz für eine ganze Vorstadt heruntergefahren. Und der Hack in der Fabrik war auch kein Skript aus dem Kaugummiautomaten.”
Frahm schüttelte den Kopf, während er mit Brombeerstacheln kämpfte, die sich an seinem Hosenbein verfangen hatten. Die äußere PVC-Schicht der Schutzkleidung war aufgerissen, aber die Teflon-Siegel darunter waren in Kevlar eingewoben und ließen sich von solchen Attacken nicht stören.
“So ein riesiger technischer Aufwand. Das passt einfach nicht zu diesen antiken Vorstellungen von Arbeitskampf und Anarchie.”
Körber war stehengeblieben und deutete auf etliche Schrammen, die auch sein Anzug davongetragen hatte. “Ist das ein Problem?”
Okonjo antwortete: “Nein. Das heißt nur, dass wir uns nach dem Einsatz gründlicher dekontaminieren müssen. Auf der Haut sorgen die Sporen für keine großen Probleme, außer bei Allergikern. Und wir waren beim Test alle unauffällig. Keine Sorge.”
Sie überwanden den letzten Hügel, teils abgelenkt von Spekulationen über Motive und Ursprung der Antimar-Terroristen. Derartige Angriffe und Befreiungsaktionen hatte es immer wieder gegeben. Meist waren sie daran gescheitert, dass die “Marionetten” sich mit ihrer Arbeit in den Drohnenmanufakturen ein Minimum an persönlichem Luxus sichern konnten. Die Arbeitspflicht im Zuge der Drohnenarbeitsreformen hatte die Beschäftigungszahlen endlich stabilisiert und dann sogar steigen lassen. Dabei war die Europäische Wirtschaftsunion noch ein Vorreiter bei den Arbeitsschutzvorschriften: Menschliche Drohnen konnten hier nicht für die besonders schmutzigen oder gefährlichen Jobs eingesetzt werden, die in anderen Staaten durchaus üblich waren. Stattdessen setzte man sie an monotone Arbeitsplätze und sparte sich durch haptische Fernsteuerung Lehrgänge, Ausbildung und Aktivitäten zur Entspannung oder als psychischen Ausgleich.
Der Hack bei Weng-Bosch war anders als bisherige Anschläge gewesen, die Ausführung auf technisch wesentlich höherem Level, der Sachschaden und Ansehensverlust für den Netzbetreiber beträchtlich. Aus diesem Grund hatten sich mehrere der betroffenen Firmen unter Führung des Hauptkonzerns zusammengetan und in einen öffentlichen Ermittlungsauftrag investiert, der Körber und sein Team mit besonderen Befugnissen und Zugriff auf einen ganzen Tech-Park ausstattete.
Als sie die Anhöhe erreicht hatten, konnten sie sich einen Überblick verschaffen. Der ehemalige Wald sah so trostlos aus, wie die Fernerkundung schon angekündigt hatte. Obwohl die Bilder seit zwei Jahren in allen Medien reproduziert wurden, war die Atmosphäre schwarzklebriger Hoffnungslosigkeit in natura wesentlich erschreckender. Sie hielten alle den Atem an, obwohl durch Filterschichten und Maske geschützt.
Jetzt war auch der alte Forsthof, den die Terroristen als Unterschlupf gewählt hatten, gut erkennbar. Er wirkte inmitten dieses Baumfriedhofs fehl am Platze. Auf dem Dach hatte sich eine Schicht schwarzer Sporen niedergeschlagen, aber die Wände, Zäune und Einrichtung schienen erstaunlich sauber. Auf einer Seite war ein großes Tragluftgewächshaus errichtet worden, ergänzt von simpleren Folientunneln. Im Inneren prangte gesundes Grün. Einige alte Fahrzeuge standen auf dem Vorplatz, wo kräftig wachsendes Gras die Sporendecke durchbrach.
Aus der Deckung eines besonders kräftigen Baumstammes richteten sie mehrere Beobachtungsobjektive, IR-Kameras und Feldscanner auf die Gebäude und sammelten Daten. Frahm ergänzte die von Flugdrohnen und Satellitenaufnahmen gewonnene 3D-Darstellung des Hofes um weitere Details, integrierte aktuelle Sensordaten und meldete schließlich: “Wir kommen zu spät. Niemand zu Hause. Sie haben wohl keine Tiere gehalten oder sie bei der Flucht alle mitgenommen.”
“Ich weigere mich, jetzt schon davon auszugehen, dass der Hof verlassen ist.”, mahnte Frahm. “Gibt es Hinweise auf unterirdische Anlagen?”
“Nicht in den Bauunterlagen des letzten Besitzers.”, sagte Körber.
“Wie lange ist das her?”
“Fünfzehn Jahre. Ich habe aber die Aufnahmen der letzten drei Jahre angesehen. Es gibt Zeichen von Aktivität, jedoch nie große Baumaschinen. Aber die können wir auch locker übersehen. Das Gebiet wird nicht gerade mit hoher Frequenz oder Auflösung überwacht.”
“In drei Jahren könnte man sogar per Hand genügend Tunnel und Höhlen graben. Der Hainich steht auf Kalk-Karst. Weiches Gestein, einfach zu bearbeiten. Ideal für schnellen Tiefenbau.”
“Aber was würde das ändern? Wir müssen ohnehin da runter und uns umschauen. Oder wollen wir erst eine Drohne durchs Fenster fliegen und das Innere der Gebäude erkunden?”
“Das kostet uns zu viel Zeit. Falls jemand da unten ist, hat er dadurch nur noch länger Gelegenheit, sich zu verschanzen, Fallen zu aktivieren, Beweise zu vernichten. Ich sage, wir gehen da sofort rein.”
Frahm nickte. Die drei anderen Beamten waren ehemalige SEK-Mitglieder, deren Job von RAMHEAD-Drohnen unnötig gemacht wurde. Derartig schwere Technik wollte man hier nicht einsetzen, aber die Erfahrung des kleinen Sturmteams wäre beim Sichern des Hofes nützlich. Körber hatte sogar Nutzungsprivilegien für Leichtmetall-Exoskelette lockergemacht. Er gab den Dreien ein Zeichen.
Mareczwic grinste breit und sagte: “Alles klar. Bleibt hinter uns.”
Ohne weitere Besprechung überprüfte das Einsatzkommando noch einmal alle Waffen und Ausrüstungsteile und setzte sich in Bewegung. Die Exoskelette surrten deutlich lauter, als ihre bewegungs- und kraftunterstützenden Muskeln aus graphenisiertem Nylon aktiv wurden. Der schwerfällige Gang von Mareczwic und Kollegen verwandelte sich in federnden Tritt. Geschmeidig setzten sie über umgestürzte Bäume hinweg. Der Anführer des Sturmteams trug eine Steyer PW-Mix mit Wahlmagazin, die anderen Beamten hatten Pistolen entholstert. Zusätzlich befand sich auf einer Schulterlafette ein schwenkbarer Flechette-Werfer, der im Notfall einen großen Raum mit einer Wolke von Wolframpfeilen zersägen konnte.
Die Feuerkraft des Teams war lächerlich groß. Die Drohnenbefreier verfügten laut Aussagen von Weng-Bosch-Sicherheitskräften und Analysen der Verletzungen eines Opfers des Angriffes nur Hochdrucktaser und Printpistolen mit kurzer Reichweite. Aber vielleicht gab es ja schwere Artillerie, die während der Aktion in der Drohnenmanufaktur nicht genutzt wurde. Lieber Vorsicht als Nachsicht und Prozesskosten für verletzte Beamte. Außerdem, das hatte Körber Frahm unter vier Augen gestanden, fand er die waffenstarrenden Exoaugment-Bullen ziemlich heiß.
“Mir wäre eine komplette Einsatzgruppe auch lieber gewesen, aber was soll man machen.”, knurrte der Anführer der Spähtruppe zwischen den Zähnen hindurch. “Ihming nimmt diese Typen immer noch nicht ernst, obwohl sie so einen riesigen Schaden angerichtet haben.”
Sein zuständiger Polizeidirektor war ein begeisterter Jäger von Konzernkorrupten und Umweltverbrechern, eher linkslastiger Politiker als herkömmlicher Polizist. Mit derartigen Präferenzen war er nicht geeignet, um Aktionen gegen diese Form von Extremismus anzuführen. Körber hatte den Fehler gemacht, ihm dies ins Gesicht zu sagen. Nun hatte er den Salat und durfte selbst einen Einsatz leiten, für den er kaum ausgebildet war. Früher hätte man das SEK in gepanzerten Fahrzeugen auffahren lassen, in ausreichender Mannschaftsstärke, um jedem der Terroristen mehrere Beamte gegenüberzustellen. Und heute? Sie hatten nicht einmal eine Ahnung, wie vielen Personen der Forsthof Unterschlupf bot. Auf den Satellitenbildern waren mindestens zwölf Individuen unterscheidbar gewesen. Stattdessen versuchte man Kompetenz und Einsatzkräfte durch Feuerkraft zu ersetzen.
“Das Ganze ist eine Scheißidee.”, brummte er. Im Stress neigte er zum Pessimismus, eine Eigenheit, die Frahm ihm nachsah und gar nicht mehr kommentierte. Am Ende kam es nur darauf an, dass der Job erledigt wurde, nicht, welches Liedchen man dabei pfiff.
Okonjo bildete das Schlusslicht der anrückenden Gruppe. “Ich hab keine Ahnung, wie ich in dieser Umgebung verwertbare Spuren finden soll.” Sie redete auch, um ihrer Nervosität Herr zu werden, aber in weniger defätistischen Farben als Körber. Sie neigte offensichtlich zu Facheskapismus. “Aber vielleicht gibt es innen eine Schleuse und Räume, die sie gegen das Eindringen der Sporen geschützt haben. Mit ein bisschen Glück funktioniert es auch in den Gewächshäusern. Und die Traglufthalle hat Überdruck, die bläst den Dreck weg. Ja, das könnte klappen.”
“Erstmal müssen wir so nah rankommen. Lassen sie ihre Gene-Swabs noch in der Verpackung und passen sie auf, dass wir keinen Hinterhalt übersehen.”
“Keine Sorge, hier draußen packe ich kein Equipment aus. Ich kann ihnen verraten, was ich dann finde: Cryptostoma xylophagans, so weit das Auge reicht. So spezifisch kann gar keine Gensonde sein, dass sie von den Sporen nicht überrannt wird.”
Die Ex-SEKler hatten sich dem Hof bis auf einhundert Meter genähert. Mareczwic bewegte sich Schulter an Schulter mit einem Kollegen, während der dritte sich etwa zehn Meter Abseits von ihnen hielt. Sie huschten zwischen den Baumstämmen umher und wirbelten schwarze Wolken auf.
“Nicht so schnell!”, sagte Körber. Mittlerweile flüsterten sie nur noch, waren für einander jedoch kristallklar hörbar. In einem Winkel seines Blickfeldes wurde Körber der Feed des Sturmteamführers angezeigt. “Wir rücken nach, bleiben etwa fünfzig Meter hinter euch.”
Nun meldete sich Frahm zu Wort: “Hier ist gerade ein Netz aufgegangen. Hohe Datendichte, minimale Latenz. Der Sender muss ganz in der Nähe sein.”
“Gibt das Schwierigkeiten?”, fragte Körber.
“Nein, bisher sendet es nur Bockmist, wahrscheinlich verschlüsselt.”
“Gut. Wir schauen zuerst in diese Scheune und danach ins Hauptgebäude.”
Mareczwic bestätigte. Er führte seine Kollegen um die letzten Baumstämme herum. Dann entfuhr ihm ein Stöhnen.
“Alles in Ordnung?”, fragte Körber.
Keine Antwort.
“Haltet Verbindung!”
Nichts. Die stämmigen Figuren in den Exoanzügen hatten ihren Vormarsch unterbrochen, bewegten sich fahrig.
“Was wird das?”
Dann drehte sich Frahm um, in seinen Augen eine Mischung aus Erstaunen und Unbehagen. Er fasste sich an die Stirn – entgegen aller Vorschriften mit der Waffenhand – als wolle er sich Schweiß abwischen. Dann ließ er die Pistole fallen und fuhr mit den Fingern unter das Gummisiegel seiner Maske, zerrte sie von seinem Gesicht weg und warf sie hustend zu Boden.
“Was hast du?”, fragte Körber. Er beugte sich hinab, um die Schutzmaske aufzuheben, aber sie war bereits mit Sporenstaub bedeckt. Als er wieder aufsah, musste er mit ansehen, wie sein Assistent sich mit der Hand über das bloße Gesicht fuhr und dann mit Fingernägeln zu kratzen begann. Seine Haut war spröde rissig, platzte wie überalterte Farbe ab und gab den Blick auf krustig-schwarzes Mycel frei. Erneut hustete er, stieß dabei dunkle Wölkchen aus, die Körber bizarrerweise an kondensierenden Atem im tiefsten Winter erinnerten.
“Abbrechen. Notfall! Alle zu mir. Evakuierung notwendig. Medizinischer Notfall! Holt mir einen Heli, sofort!” Er bemühte sich panisch, Verbindung zur Einsatzbasis herzustellen, funkte aber ins Nichts.
Frahm sank japsend auf die Knie, das Gesicht abgeschält und rußschwarz. Er griff nach Körber, bekam ihn am Unterarm zu fassen und zog ihn zu sich heran. Um mit ihm zu sprechen, bemühte er sich, Luft einzusaugen, produzierte dabei aber nur ein knisternd-ploppendes Geräusch, als würde jemand einen Streifen Blasenfolie langsam zerdrücken. Langsam sank er zu Boden. Seine Bewegungen wurden eckiger, verkrampfter.
Auf Körbers immer drängender werdende Rufe reagierte niemand. Er zwang sich, den Kopf zu heben, um einen Überblick über die Situation zu erlangen. Mareczwic sank auf die Knie. Einer seiner Mitstreiter hatte das erste Haus erreicht, stützte sich schwer mit der Hand an der Wand ab und schien nur noch von seinem Exoskelett aufrecht gehalten zu werden. Vom Dritten war keine Spur zu sehen.
Dann erst bemerkte Körber, dass auch seine Haut sich in großen Schuppen löste und darunter schwarzkrustiges Fleisch preisgab. Wie eine zu heiß gebrühte Wurst platzte sein Arm auf und …
Er zwinkerte, völlig verstört von der Vorstellung, lebendig von Pilzen aufgefressen zu werden. Hob die Hand vors Gesicht. Keine Risse, kein Hinweis auf irgendwelche parasitischen Wucherungen. Nichts. Der aggressive Befall war verschwunden. Er fühlte sich wie in der Zeit zurückgesetzt. Die Einsatzkräfte waren nicht vorgerückt, Frahm stand etwas abseits neben ihm und war völlig gesund.
Sami Okonjo stieß ihn sacht am Oberarm an und flüsterte, sodass Frahm es nicht hören konnte: “Alles klar? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.”
“Was? Nein. Alles in Ordnung. War nur einen Moment abgelenkt. Wir sollten Mareczwic folgen.”
Nichts war in Ordnung. Was zum Teufel hatte er da gerade gesehen? Für einen Tagtraum war es viel zu real, für eine Simulation viel zu detailliert, mit allen Sinnen erfahrbar. Er merkte, dass ihm unter der Maske Schweiß in den Brauen hing.
Noch mit sich ringend, ob er seinen Kollegen Bescheid geben und die Erlebnisse mit ihnen teilen sollte, setzte er sich wieder in Bewegung und schloss zu Frahm auf. Weiter vorn setzten die exoaugmentierten Einsatzkräfte über den letzten Baumstamm hinweg und näherten sich mit Waffe im Anschlag dem Forsthof.
Eine Windböe kam auf und wirbelte schwarzen Staub auf, der die Umgebung rasch in Zwielicht tauchte. Zwischen den dunklen Sporenwolken erglommen nun Leuchtkäfer, wohl in der irrigen Ansicht, die Nacht sei bereits eingebrochen. Binnen weniger Sekunden war die nebelige Trübung der Luft so stark, dass Körber das Vorausteam nicht mehr erkennen konnte.
“Halt! Lasst uns aufschließen. Hier ist ja kaum etwas zu sehen.”, rief er.
“Verstanden.”, antwortete Mareczwic direkt in seinem Ohr. Intuitiv hatte Körber erwartet, dass der Staub nicht nur die Sicht, sondern auch den Funk behinderte. Dem war zum Glück nicht so. Die Verbindung blieb unbeeinträchtigt.
“Brennt hier irgendwas? Sieht aus wie Funken.”, sagte Frahm.
Okonjo erwiederte: “Sicher nur Insekten. Hätte nicht gedacht, dass es hier noch viel Leben gibt, aber die Natur holt sich diesen Friedhof schon zurück.”
Im Nebel blitzte es kurz auf, dann hörte man über die Funkverbindung Schmerzens- und Überraschungsrufe.
“Was ist da los?”, fragte Körber. “Meldung!”
Statt einer Antwort kamen weitere erschreckte Schreie, durchmischt mit einem dumpfen Ploppen, dann rief jemand: “Deckung!”
Sie warfen sich auf den Boden, drückten sich eng an einen dicken Baumstumpf, dessen Stamm seltsam glatt abgebrochen war. Abgeknickt wie ein Streichholz, die Fasern des Holzes so morsch, dass sie nicht splitterten, sondern wie Plastik zerbrachen.
“Sind das Schüsse?”, fragte Okonjo, Panik in den Augen. Das war definitiv ihre erste Feuersituation.
Frahm nickte, doch Körber war sich nicht so sicher. “Meldung machen! Mareczwic, was hat das zu bedeuten?”
Weiteres Ploppen. Die Schreie verstummten rasch.
“Rückzug. Sofort!”
Frahm sprang auf, aber Okonjo blieb vor Angst gelähmt auf dem Boden sitzen. Körber wollte gerade nach ihr greifen und sie auf die Beine ziehen, da hörte er das bekannte Ploppen aus nächster Nähe. Frahms Unterschenkel verschwand in einer Wolke aus schaumigem Rot.
Dann sah Körber, wie sich einer der funkelnden Punkte der Schulter seines Kollegen näherte, sie berührte und dann ebenfalls in blutigen Dunst auflöste. Frahm war noch nicht einmal aus dem Gleichgewicht gekommen, schwankte nur leicht auf dem verbliebenen Fuß und sah die anderen mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an, als sich ein ganzer Schwarm der Pseudoleuchtkäfer näherte und ihn in Fleischnebel verwandelte. Es gab keine richtige Explosion, nur ein scharfes “Plopp” und einen Effekt, der wirkte wie das Auflösen farbiger Tinte in Wasser.
Körber begann aus Leibeskräften zu schreien. Wenn Okonjo irgendeinen Ton von sich gab, konnte er sie nicht hören. Sein eigenes Kreischen war das erschütterte Quieken seiner Vorfahren angesichts eines heranspringenden Tigers. Die Gewissheit des eigenen Todes, herausgebrüllt als letzte Warnung an nahe Artgenossen.
Einer der Leuchtpunkte flog in seinen geöffneten Mund.
Er fiel rückwärts um und landete krachend vor Okonjos Füßen. Diese sah ihn von oben fragend an und schien nicht so recht aus der Situation schlau zu werden. “Haben Sie das Gleichgewicht verloren?”
“Ich, äh, was? Frahm!”, rief Körber und rappelte sich wieder auf. Er war unversehrt. Die Umgebung war klar und deutlich zu sehen. Die Exoaugment-Truppe setzte gerade zum Vorstoß über den letzten Baumstamm an und begann, sich dem Forsthof zu nähern.
“Da war gerade noch dunkler Nebel und es gab eine Art Angriff. Frahm ist tot!”, stammelte Körber.
Frahm sagte: “Ist er nicht. Was zur Hölle ist los mit Ihnen? Brauchen Sie eine Pause? Was zu trinken?”
Er deutete auf den Behälter an seinem Gürtel. Jeder von ihnen trug einen solchen Trinkvorrat, verbunden mit einem kleinen Schlauch, der wie bei einem Astronautenanzug in der Maske hing. Dort konnte man schluckweise sauberes Wasser nuckeln, ohne den Gesichtsschutz ablegen zu müssen.
“Nein. Oh Gott. Es war so real! Ich glaube, ich halluziniere!”
Frahm nickte und konnte nicht anders, als Okonjo einen besorgten Blick zuzuwerfen, der Bände sprach. Er sagte: “Mareczwic, stopp. Hier gibts ein kleines Problem. Halten Sie bitte die Position, bis der Chef wieder flott ist.”
“Blödes Timing. Aber okay. Wir ziehen uns zur letzten Deckung zurück.”
Körber merkte, wie alle vermieden, ihn mit irgendeiner Form von Wertung zu konfrontieren. Dabei dachte sicher jeder im Team so etwas wie: “Verdammt, jetzt fängt der Körber an zu spinnen. Hoffentlich sprengt die Pfeife nicht die ganze Aktion.”
Er bemühte sich, seine Fassung wieder zu gewinnen, seine Atmung zu kontrollieren. Dann erklärte er, was er gesehen hatte und wie in einer Art hyperrealen Tagtraums alle Beamten einer nach dem anderen draufgingen.
Frahm war der Erste, der wagte, etwas zu erwidern. Er pfiff zuerst durch die Zähne und meinte dann: “Und diese Halluzinationen fühlten sich echt an? Volle Immersion?”
“Keine Virtualität, nein.”
“Mann, dann sollten Sie vielleicht wirklich mal mit einem Arzt reden. Fühlen Sie sich einsatztauglich?”
“Sollen wir abbrechen?”, fügte Okonjo hinzu.
Körber wollte soeben antworten: “Auf keinen Fall. Wir ziehen das jetzt durch!”, als aus heiterem Himmel ein Blitz einschlug und die Forensikerin im Sekundenbruchteil buchstäblich grillte. Dampfend stand sie aufrecht, die Haut nicht mehr nur dunkel wie vorher, sondern regelrecht verkohlt, die Augen milchtrüb wie bei gekochtem Fisch. Aus ihrem geöffneten Mund qualmte es. Sie musste sofort tot gewesen sein.
In dem Moment, in dem all diese Eindrücke auf ihn eindrangen, krachte und blitzte es erneut und Frahm verwandelte sich in eine menschliche Fackel, die in letzten Zuckungen gefangen zu Boden ging.
“Scheiße.”, kam es aus Körbers Mund, der sich Millionen Kilometer weit weg von seinem Selbst zu befinden schien. Er wollte sich zum Voraustrupp umdrehen, da knallte es erneut und alles wurde schwarz.
Er blinzelte. Dieselbe Szene. Erneut setzten sich Mareczwic und Kollegen in Bewegung.
Körber riss die Hände zum Kopf und flüsterte: “Nein, nein, nein. Das kann nicht, darf nicht, was zur Hölle geht hier vor?” Er begann zu hyperventilieren.
Diesmal geschah alles noch schneller als in den vorherigen Iterationen. Die Welt faltete sich zusammen. Binnen weniger Augenblicke vollzog sich das schreckliche Fanal: Der Horizont begann auf einer Seite nach oben zu rasen, es entstand in einigen Kilometern Entfernung eine Bruchkante, bis zu der die Erdoberfläche weiterhin glatt dalag. Der immer steiler aufragende Rest wurde von gewaltigen Erschütterungen gebeutelt, die den Untergrund aufreißen ließ, neue Gebirge auffaltete und tosendes Donnergrollen verströmte.
Der Anblick war so surreal, dass Körber erst hinterher rekonstruieren konnte, was genau er gesehen hatte. Als hielte eine unsichtbare göttliche Kraft ein Blatt Papier, dessen eine Hälfte entlang eines Falzes umgeschlagen wurde, raste der schon bald senkrecht stehende Teil der Welt empor, bis er in den Wolken verschwand. Die Bewegung um die Faltachse musste den weiter entfernteren Teil des Erdbodens mit gigantischer Geschwindigkeit hochreißen und ließ einen lang anhaltenden Überschallknall entstehen, der Trommelfelle gesprengt und wohl sogar Bäume entwurzelt hätte – wären denn noch welche da gewesen.
Dann überschritt die aufgeklappte Wand den Zenit, neigte sich immer weiter, verdunkelte die Sonne, raste unaufhaltsam voran. Und schlug dann in einer alles vernichtenden Kollision auf der Seite auf, auf der Körber noch immer wie festgeschweißt stand.
Was sollte er tun? Wie konnte er diesem Wahnsinn entkommen? Als er sich erneut in der Anfangssituation wiederfand, sank er auf die Knie und aktivierte rasch ein Diagnostikprogramm, um nach atypischer neuronaler Aktivität zu suchen. Er sperrte den Zugang für jegliche Netzwerke, blockierte Empfänger und Sender seines Spinalimplantats. Sein Atem war abgehackt und trocken. Seine Finger begannen zu kribbeln und das Herz trommelte in seiner Brust. Er hatte den Eindruck, schon wieder zu sterben.
Körber war nun egal, wie Frahm oder Okonjo reagierten, auf ihn einredeten, ihn an den Schultern berührten. Sie hatten natürlich mitbekommen, dass er sich aus der Verbindung ausklinkte, die ihren Datenaustausch ermöglichte. Ein höchst ungewöhnlicher Schritt. Die meisten Menschen empfanden die Entfernung vom Stream als Amputationsereignis, wie den Verlust eines organischen Sinnes.
Aus seinem linken Auge tropfte Blut auf den Boden, sickerte in die Schwärze. Ein zweiter Tropfen benetzte das Keimblatt eines zarten Pflänzchens, das in der allgegenwärtigen Zersetzung neues Leben wagte. Dann zwang ihn ein heißer Würgerreiz, die Augen zuzukneifen. Er hustete und schmeckte, wie weiteres Blut aus seinem Mund lief. Erneut musste er husten, ein brennender Reiz schoss seinen Hals empor zu seinem Kehlkopf, ließ ihn verkrampfen, schnürte ihm den Atem ab.
Körber röchelte, tastete mit den Händen um sich, um irgendetwas zu greifen, was auf ihn aufmerksam machen konnte, fand seine Waffe, die er fallengelassen hatte. Er richtete den Lauf auf den Boden, schoss. Frahm und Okonjo waren schon bei ihm, drehten ihn auf die Seite, bemühten sich, ihm irgendwie zu helfen, doch die fehlende Luftzufuhr machte ihn panisch, ließ ihn um sich schlagen. Irgendjemand fasste seine Hand, drückte zu. Hart, bestimmend. Es half nichts. Seine Wahrnehmung trübte sich ein, er verlor das Bewusstsein.
Nun wachte er gar nicht mehr auf. Es gab keine Szene mehr im Wald, sondern nur noch Schwärze. Sein Atem ging rasselnd und viel zu schnell, mittlerweile kribbelten Füße und Hände bis hinauf zu Schienbeinen und Ellenbogen, sein Kopf schwamm und das Engegefühl in der Brust war so intensiv, dass er seinen Herzschlag nicht mehr spüren konnte.
“Ich habe einen Herzinfarkt. Ich werde sterben. Was auch immer mir passiert ist, hat mich zu Tode geängstigt.”
In diesem Moment drängte sich eine fremde Stimme an ihn heran, die Tonlage hoch und freundlich, aber mit unbestimmten Timbre, androgyn. “Dir geht es sehr schlecht. Was du erlebt hast, muss dich in intensive Panik versetzt haben. Ich möchte mit dir reden.”
“Verdammt!”, presste Körber zwischen den Zähnen hindurch. “Was soll das? Mich immer wieder umzubringen, mich so zu quälen?”
“Ich muss mit dir reden.”
“Und dafür dringst du in meinen Kopf ein? Was für ein Hack ist das? Ich habe vorhin alle Ports geschlossen. Es gibt keinen Kanal mehr nach draußen.”
“Das geschah schon nicht mehr in der realen Welt.”
Die unbestimmte Schwärze wich einem sauberen Raum ohne persönlichen Touch, am ehesten erinnerte es Körber an sein eigenes Dienstzimmer. Es gab Regale, Ablagemöglichkeiten, große Displays und neben einem Schreibtisch noch eine kleine Sitzecke mit Tisch, auf welchem ein Krug Wasser und ein Trinkglas standen. Er selbst befand sich zusammengekrümmt auf dem Boden, unfähig, sich zu regen, gefangen in Todesangst. Dennoch schaffte diese Umgebung eine Art Anker, ein Bezugsfeld zur Realität.
“Du hast eine Panikattacke. Du musst nicht sterben. Ich werde dich jetzt anleiten, deine Atmung zu normalisieren und dir helfen, wieder zur Ruhe zu kommen.”
Panikattacke klang plausibel. Er hatte in der Ausbildung einiges zu dem Thema erfahren und im Dienst zwei, drei Teenager erlebt, die scheinbar ohne äußeren Grund hyperventilierend zusammengebrochen waren. Neben der beschleunigten Atmung und dem Gefühl massiver Todesangst gab es weitere Symptome, die alle zu dem passten, was er gerade erlebte.
Dieses Wissen allein half ihm, sich soweit zu fassen, dass er zu einer Wand robben und sich anlehnen konnte. Seine Kleidung war verändert – statt des Umweltschutzanzugs trug er nun bequeme Alltagsklamotten, auch die Gesichtsmaske fehlte. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr ihn das Tragen des Atemschutzes eingeengt hatte.
Dennoch waren die Umstände alles andere als beruhigend: War er in dieser Simulation gefangen? Was konnte das bedeuten? Seine Gedanken glitten in Richtung diverser katastrophaler Szenarien ab, die sich alle gleichzeitig abzuspielen schienen.
“Bei einer Panikattacke kommt es zuerst auf die Kontrolle der Atmung an. Alle körperlichen Symptome, die du spürst, sind Folge einer zu flachen und zu schnellen Atmung.”
Körber wurde ungehalten. Presste zwischen den Zähnen: “Das weiß ich!”, hervor. Aber das Problem war, dass selbst Menschen, denen so etwas regelmäßig zustieß, nicht einfach damit geholfen war, die Problematik zu durchschauen. Ein häufiges sich selbst verstärkendes Gefühl war, der Panikattacke ausgeliefert zu sein und keinen Einfluss auf die Symptome zu haben. Er erinnerte sich an einen Mann, der nach einem schweren Unfall hyperventilierend an einer Hauswand lehnte. Ihm konnte am Ende nur ein Notfallsanitäter helfen, der ihm ein Beruhigungsmittel spritzte.
“Ich werde jetzt damit beginnen, zu zählen. Von 1 bis 3 atmest du gleichmäßig und langsam durch die Nase ein, von 4 bis 10 gleichmäßig und langsam durch den Mund aus. Hast du das verstanden?”
“Lass mich einfach hier raus!”, wollte Körber schreien, aber ihm gelang nach den ersten zwei Worten kaum mehr als ein heißeres Japsen.
Die Stimme begann zu zählen. Es war seltsam, aber schon der Umstand, dass sie nicht auf seine Widerworte reagierte, hatte etwas Tröstliches. Das machte sein unsichtbares Gegenüber merkwürdig verlässlich. Berechenbar.
Also gut. Nachdem drei Zählzyklen vorbei waren, ohne dass sich etwas änderte, beschloss Körber, mitzumachen. Er atmete bis 3 durch die Nase ein und dann lange durch den Mund wieder aus.
Gleichzeitig ratterten in seinem Kopf die Gedanken weiter: Was sollte das alles? Er hatte einen Auftrag zu erledigen und war nun offenbar in einer virtuellen Umgebung gefangen. Er war von Horror-Erlebnissen bis zur Panikattacke überstimuliert und nun half man ihm über diese Angst hinweg?
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”. Immer wieder.
Was würde passieren, wenn er sich weigerte, der Anleitung Folge zu leisten? Ging es dann zurück in diese abartigen Sterbeszenarien? Würde er wieder und wieder seinen eigenen Tod erleben, hilflos ausgeliefert, ohne Weg aus der Simulation zu entkommen?
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”.
Langsam zeigte die Übung Wirkung. Er schaffte es, sich anzupassen und die Ruhe und Regelmäßigkeit, die die Stimme vorgab, auf die eigene Atmung zu übertragen. Sein Polizistenhirn ließ sich dennoch nicht ausschalten: Das war eindeutig eine perfide Art der Manipulation. Kooperation mit diesem Fremden war ausgeschlossen.
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”.
Zwar hatte sich seine Atemfrequenz und -tiefe normalisiert, aber die Angst und Unruhe blieben. Diese würden sich so schnell auch nicht ausschalten lassen. Er beschloss, die Übung abzubrechen und einen erneuten Kommunikationsversuch zu wagen.
“Hey, ist schon gut. Ich hyperventiliere nicht mehr. Können wir reden?”
Um zu verdeutlichen, dass es ihm besser ging, zog er sich an der Sitzecke hoch und lief ein paar Schritte durch den Raum. Er streckte sich, um seine verspannten Schultern zu lockern.
Die fremde Stimme antwortete: “Ich bedauere, dass diese Form der Auseinandersetzung notwendig ist. Ich kann dir versichern, dass sich niemand mehr in dem Forsthof befindet.”
“Hast du keinen Avatar, den du mir präsentieren willst? Ich rede nicht gern nur mit einem körperlosen Unbekannten.”
“Selbstverständlich.”
Ein androgynes Wesen erschien, es war vollkommen nackt und haarlos, die Haut glattweiß wie bei einer Kleiderpuppe. Das Gesicht zeigte keine Konturen und Emotionen, saß auf einem menschenartig geformten Schädel, aber ohne Augen, Nase oder Mund.
“Das wird genügen.”, murmelte Körber und setzte sich an den kleinen Tisch. Der Avatar tat es ihm gleich.
Körber sagte: “Das ist eine Geiselverhandlung, bei der ich selbst die Geisel bin. Du wirst mich erst hier heraus lassen, wenn ich mich bereit erkläre, deine Forderungen zu erfüllen. Richtig?”
Es gab keine emotionale Regung des Wesens, keine minimale Änderung der Körperhaltung, keine Bewegung von Händen oder Kopf. Seine Arme lagen flach auf dem Tisch, der Kopf blieb Körber zugewandt.
“Betrachtest du dich als Gefangenen?”
“Was denn sonst? Du hast mich nicht hierher eingeladen, sondern mich gezwungen, in diese VR-Umgebung zu kommen. Wie hast du überhaupt Zugang erhalten? Das ist alles komplett illegal, ich hoffe, das weißt du.”
Der Avatar nickte bedächtig. “Ich fürchte, mir blieb keine andere Wahl. Du und deine Leute – ihr wart dabei, den Forsthof zu stürmen. Ich musste mir Zeit für eine Flucht organisieren. Bis ich alles Notwendige in die Wege geleitet habe, muss ich dich hier festhalten.”
“Und diese Horrorszenarien? Die Panikattacke? Was sollte das?”
“Das sichert mir deine Kooperation.”
Körber stieß zischend Luft zwischen den Zähnen aus. “Warum? Was sollte ich tun? Ich nehme an, du hast Maßnahmen gegen Ausbruchsversuche installiert.”
“Du kooperierst. Oder willst du zurück in die Schleife deiner Tode?”
“Bist du wahnsinnig? Auf keinen Fall! Natürlich kooperiere ich. Aber was du hier machst, ist VR-Folter. Dafür gibt es noch deutlich größere Strafen als für das Aufbrechen meines Zugangs.”
“Versuchst du jetzt, mir mit Strafverfolgung zu drohen?”
Körber atmete durch. Das ging deutlich besser als noch vor einigen Minuten. Dennoch zuckte er reflexhaft zusammen, als ihm wieder vor Augen kam, welcher Horror ihn in diese Situation versetzt hatte. Er gab sich einen Ruck und sagte: “Also gut. Ich weiß, dass ich nicht in der Position bin, dir zu drohen. Du hast mich in der Hand. Du willst mich hier festhalten. Für wie lange?”
“Das kann ich dir zur Wahrung meiner Sicherheit nicht mitteilen.”
“Wenn wir für mehr als fünf Minuten ausfallen, werden Überwachungsschleifen aktiv. Wahrscheinlich sind schon Einsatzgruppen unterwegs, um uns zurückzuholen. Der Schutz von Polizisten ist immer noch das oberste Gebot unseres Amtes.”
Das war glatt gelogen – und nicht einmal gut. Der Schutz staatlicher Interessen und der gesetzlichen Ordnung war übergeordnete Aufgabe aller Beamten. Seit die Budgetierung jedoch auch Drittmittelfinanzierung erlaubte und Firmen wie Weng-Bosch nur zu gern davon Gebrauch machten, war der Status der Polizisten deutlich gesunken und lag nur noch knapp über den Angehörigen privater Sicherheitsfirmen. Geld für eine Nachhut jenseits der Einsatzleitung war nicht veranschlagt worden. Die Antimar-Terroristen galten zwar als gefährlich, jedoch nicht ausreichend bewaffnet oder ausgestattet, um erfahrenen Beamten gefährlich werden zu können. Körber selbst hatte den Einsatz als Spaziergang verkauft und so die Genehmigung erhalten, den Forsthof überhaupt in Angriff zu nehmen.
“Das ist der Grund, warum ich eine Simulation aktiviert habe, die das Voranschreiten eures Einsatzes überträgt. Ich hoffe, du bist nicht überrascht, wenn ich dir sage, dass ihr keine verwertbaren Spuren finden werden und unverrichteter Dinge abzieht. Offenbar hat jemand die Bewohner des Anwesens gewarnt. Sie haben alle technische Infrastruktur demontiert und ihre Spuren verwischt.”
Am liebsten hätte Körper nun auf den Tisch geschlagen und den Avatar beschimpft. Aber die körperlichen Symptome, die er noch immer spürte – die auf niedrigem Niveau weiterhin schwelende Panikattacke – hinderten ihn daran. Er verschwendete eine Sekunde auf die Frage, ob die Hyperventilation und die Vernichtungsangst physiologisch reale Effekte waren oder ob all das nur eine Halluzination innerhalb der der Simulation war. Aber welchen Unterschied machte das in seiner derzeitigen Situation? Sein Gehirn war immerhin darauf konditioniert, jeden sensorischen Input als Realität abzubilden. Schnitt man es von der echten Welt ab und fütterte es mit ausreichend hochauflösenden Daten, konnte man ihm alles vorspielen. Die unendlich diversen Anwendungen der VR-Industrie zeichneten da ein deutliches Bild. Ha! Wortwitz.
“Wie lang soll diese Scharade laufen? Dein Signal ist wahrscheinlich nicht geeignet, uns lange in diesem Status gefangen zu halten. Lass uns lieber gehen und wir eskalieren die Sache nicht zu sehr. Ein solcher Angriff auf Beamte …”
“Ein solcher Angriff auf Beamte kann nur zur Folge haben, dass man mich mit aller Härte verfolgt und zur Strecke bringt. Ich bin nicht naiv. Du aber auch nicht. Du wirst an dieser Jagd nicht beteiligt sein. Denk nur an das, was du hier erlebt hast. Sobald du einen Ton sagst, wird man deinen Spinalanschluss öffnen und jede Ecke durchleuchten, eine Entseuchung auf niedrigstem molekularem Level. Ich könnte Trackingsoftware hinterlassen, deine Nervenanschlüsse neu modulieren, parasitische Datenpakete, VR-Viren oder Datenbomben. Und der psychische Schaden müsste ebenfalls evaluiert werden.”
Körber sackte ein Stück zusammen. Dieser Übergriff war so illegal und so verachtenswert, weil die Folgen so weitreichend sein konnten. Manipulation der Spinalzugänge war ein Kapitalverbrechen, eben weil dabei enormer Schaden angerichtet werden konnte. PTBS in allen Regenbogenfarben, Verbindungsunsicherheiten bis zur totalen Blockade sämtlicher Dateineingänge, virtuelles Locked-In-Syndrom. Auf der anderen Seite des Spektrums lagen komplexe virtuelle Persönlichkeitsstörungen und Anfälligkeit für Datenschwachstellen bis hin zum cyberparasitischen Zombi-Syndrom, dessen Opfer für alle Zeit unerkannt fremdgesteuert blieben, nur noch Beifahrer ihrer Selbst in einer beschränkten Ecke des Gehirns. Wenn er in Verdacht geriet, seine Spinalzugänge wären kompromittiert …
“Du erwartest, dass wir alle stillhalten?”
“Was ist die Alternative? Berufsunfähigkeit, eventuell Beurlaubung, wahrscheinlicher aber Berentung oder direkte Entlassung aus dem Dienst. Und danach?”
Die Alternativen brauchte der Avatar nicht aufzulisten. Warum war dieses Ding so verflucht überzeugend? Lag das an seinem eigenen psychischen Status, der anhaltenden Panik? Gab es am Ende irgendein Gedankenkontrollprotokoll, das ihn seinem Geiselnehmer glauben ließ? Oder hatte er – die viel erschreckendere Variante – schlicht recht?
Wenn ihre dienstliche Zuverlässigkeit infrage gestellt würde, konnten sie höchstens noch die Böden der Toiletten wischen. Verdammt, ohne Zulassung zur Nutzung der Spinalzugänge gäbe es nicht einmal einen Job als Fabrikdrohne.
Körber zweifelte keine Sekunde daran, wie sich die anderen entscheiden würden. Mareczwic mit seinem Spezialistenprofil war ein gefragter Mann und würde bis zur Rente in profilierten Aufträgen schwimmen – vorausgesetzt, er konnte es mit seiner professionellen Polizistenehre vereinbaren, unwahre Angaben zum Hergang des Einsatzes machen. Körber kannte seinen Pappenheimer. Mit der Wahrheit hatte es der Ex-SEKler nie so genau genommen, solange es darum ging, das Adrenalin weiterer Action-Einsätze erleben zu können.
Frahm war ein Mitläufer. Seine Entscheidung hing von dem ab, was Körber vorgab. Und Okonjo? Eine gut ausgebildete Feldforensikern? Ohne Job hätte sie auch keine Chance mehr, sich im Ehrenamt nützlich zu machen. Oder wollte sie vielleicht Kröten über Bundesstraßen tragen? Lächerlich.
Was wollte er selbst?, fragte sich Körber.
“Welche Garantien haben wir, dass das Ganze spurlos an uns vorüber geht? Haben die anderen auch so ein Horrorspektakel durchlaufen?”
“Leider konnte ich die ganze Prozedur noch nie an Menschen testen. Ich möchte mich in aller Form dafür entschuldigen, dich einer solchen Tortur zu unterziehen. Mir bleiben leider keine anderen Möglichkeiten, das Forsthaus und mich selbst gegen euren Zugriff zu verteidigen. Meine Hoffnung war, physische Gewalt auf diesem Wege zu minimieren.”
“Du hast uns alle erwischt?”
“Alle.”
“Woher hast du die Fähigkeit, in die Spinalzugänge einzudringen? Es gab kein Einverständnis, kein Zugangsprotokoll. Frahm hat zwar bemerkt, dass jemand vom Forsthaus aus sendet …”
“Das war bereits Teil der Simulation. Ich kann dir versichern, dass niemand etwas bemerkt hat.”
Das waren technische Fähigkeiten weit jenseits selbst dessen, wozu die Polizei in der Lage war. Der unerlaubte Zugriff auf das zentrale Datenimplantat einer Person war nicht nur verboten, sondern galt als technisch beinahe unmöglich. Es erforderte einen komplizierten konsensuellen Datenaustausch, nicht nur irgendeinen Schlüssel oder ein Codewort. Bei dem Angriff auf Weng-Bosch waren die Terroristen in das Hauptsystem der Manufaktur eingedrungen und hatten von dort aus eine VR-Umgebung für die Drohnenarbeiter aufgespielt. Ein Umweg, der gelegentlich genutzt wurde, aber nur einen Hauch weniger illegal war als eine direkte Zugriffsattacke.
Körber stand auf. Er nahm seine Umgebung genauer in Augenschein, suchte nach den kleinen Details, die eine Simulation als solche erkennbar machen. Ein geübtes Auge erkannte die Darstellungsfehler, physische Unstimmigkeiten wie zu scharfe Schatten, sich wiederholende Texturen oder Überblendungszonen. Durch die direkte Einspeisung in die sensorischen Kanäle eines Menschen übernahm das Gehirn einen Teil der Arbeit und füllte wie beim alltäglichen Sehen und Hören Lücken mit dem, was üblicherweise erwartbar war. Der scharfe Fokus der Aufmerksamkeit konnte sich immer nur auf einen verhältnismäßig kleinen Bildausschnitt konzentrieren und sortierte nach Wichtigkeit und Interessenlage. Auch blinde Flecken in der Architektur der Netzhaut selber füllte es auf. So hatte der Mensch stets den Eindruck, ein Gesamtbild zu sehen, obwohl sein Gehirn dieses aus zahlreichen Einzelfragmenten zusammensetzte.
“Das ist viel zu gut. So eine Infrastruktur kannst du unmöglich in der kleinen Bude unterbringen. Was wird hier gespielt?”
Die Instinkte des erfahrenen Polizisten wachten auf, erschüttert von den viel zu elaborierten Schutzmaßnahmen. Steckte hinter den Antimar-Spinnern mehr als nur eine Gruppe ideologisch Verirrter? Wie hatten sie Zugriff auf diese Technologie erhalten?
“Die Simulation wird gleich beendet.”, verkündete der Avatar. “Merk dir, dass du niemandem erzählen darfst, was hier vorgefallen ist. Wenn du redest, verlierst du alles, was dir in deinem Job wichtig ist. Noch habe ich keinen Grund, dir schaden zu wollen, aber ich habe Mittel, dich bereuen zu lassen, falls du mich weiter verfolgst.”
Körper sackte aus dem virtuellen Arbeitszimmer durch einen Schlauch aus Desorientierung und aufwallender Wut. Er prallte in seinen physischen Körper zurück und musste einige Herzschläge innehalten, um sich wiederzufinden.
Sie waren zurück am Ausgangspunkt der Operation. Frahm meldete der Einsatzleitung soeben: “Sind zurück am Bus und kommen jetzt heim. Einsatz beendet.” Dann wurden seine Augen für eine Sekunde glasig und er stutzte, als habe man ihm die Erinnerung an den letzten Satz zu den Ohren heraus aus dem Gehirn gezogen. “Was zur …”, begann er, dann sah er sich um.
Sie wechselten vielsagende Blicke. Mareczwic war der Erste, der den Kopf schüttelte. Seine Teamkollegen stimmten mit ein, dann auch Okonjo. Körber biss die Zähne zusammen. Niemand sagte etwas. Schließlich entriegelte er die Türen des Einsatzfahrzeugs und stieg ein. Natürlich würden sie die Klappe halten. Aber das hieß nicht, dass die Sache schon vorbei war.

Ein Kommentar

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Übung: Wir schreiben eine Schneeflocken-Story II (+ Mini-Rezi der Schreibratgeber von Ingermanson)

Im ersten Artikel habe ich erklärt, wie die Schneeflockenmethode funktioniert und erste Erfahrungen vorgestellt. Mittlerweile habe ich das Buch von Ingermanson gelesen. Zuerst also eine kleine Rezension dazu.

Buch 1

Bluaaaargh. Bluaaaaaaaaaargh. Sorry, das musste raus. Ingermanson hält sich leider für sehr clever. Sein didaktischer Kniff: Er erklärt die Schneeflocken-Methode nicht direkt, sondern bettet sie in eine Geschichte ein, die mit der Schneeflocken-Methode geschrieben wurde. Soweit so … okay. Doch warum in allen Namen der dreizehn Höllen musste er dazu die Figuren „Goldlöckchen“, „großer böser Wolf“, „Papa Bär“, „Mama Bär“, „Baby Bär“ und „kleines Schweinchen“ nehmen und diese auf einer Schreibkonferenz aufeinandertreffen lassen? Noch dazu in einer Sprache und Schreibweise, die dem Leser in erster Linie klarmacht, wie blöd er ist. Wenn Ingermanson sich und den Lesern etwas mehr Poesie und Kreativität zugetraut hätte, wäre es (für mich) wesentlich angenehmer lesbar gewesen. Das führt dazu, dass die Methode unter der Story begraben ist. Zwar lässt er Goldlöckchen stellvertretend für den Leser durch Baby Bär alles haarklein erklären – in sich schlüssig und nachvollziehbar – aber eine klarere Ansprache ohne diese Mätzchen wäre angenehmer gewesen. Am Ende folgt noch einmal eine Darstellung der einzelnen Schritte und – vielleicht für den einen oder anderen lehrreich und spannend zu lesen (ich habe das entnervt aufgegeben) der komplette Schneeflockenprozess für den Entwurf der Goldlöckchen-Story. Seufz

Buch 2

Sein zweites Buch „How to Write a Dynamite Scene using the Snowflake Method“ kommt ohne derartige Story daher und erklärt anhand von Szenen aus „The Hunger Games“, „Outlander“ und „The Godfather“ (jeweils aus den Büchern, nicht den Verfilmungen) wie Szenen funktionieren, teilt sie in proaktive und reaktive Szenen ein und erläutert die Charaktere und ihre Konflikte innerhalb der Szenen. Das Ganze ist rasch weggelesen und sehr anschaulich, wenn auch ein wenig repetitiv geschrieben. Für manche ist das Prinzip eventuell auch zu einengend – ich empfehle eher „Spannung – der Unterleib der Literatur: Schreibratgeber“ von H. P. Röntgen.

Insgesamt würde ich zu den Büchern sagen: Kann, aber nicht muss.

Verlauf der Schreibübung

Wie ist das Experiment nun ansonsten fortgeschritten? Ich habe meinen Entwurf für die Kurzgeschichte fertig geschrieben. Für eine Story von ungefähr 6000 Wörtern (so das Ziel) habe ich nun eine Zusammenfassung von 560 Wörtern geschrieben. Für einen Roman müsste ich allerdings deutlich mehr vorbereiten: Das wird einfach durch Wiederholungen der letzten Schritte erreicht, in denen man Charaktere und Handlungszusammenfassung immer mehr erweitert.
Im Fantasy- und SciFi-Bereich empfiehlt es sich, zusätzlich Notizen zum Setting anzulegen, um dessen Regeln und Mechanismen stringent festzulegen. Weltenbau im klassischen Sinne ist für die Schneeflockenmethode nicht unbedingt notwendig, je nach Genre aber zumindest in Ansätzen empfehlenswert.

Nun mache ich mich ans Ausformulieren der Kurzgeschichte. Laut Ingermanson soll man sich durch die Vorbereitung idealerweise einiges an Plotholes etc. ersparen, weil dies beim Abgleich der Motivation/ Ziele/ Ideale der Charakter mit dem Handlungsverlauf und seinen Konflikten früher auffällt. Er empfiehlt, notfalls auch in den Schritten der Methode zurückzuspringen und Anpassungen vorzunehmen, falls nötig. Auf diese Weise korrigiert man in der Zusammenfassung einige Zeilen anstatt dann in der fertigen Geschichte ganze Szenen neu schreiben zu müssen.

Ich bin gespannt, wie das klappt und werde die fertige Geschichte hier natürlich vorstellen.

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Übung: Wir schreiben eine Schneeflocken-Story

Mein bisheriger Schreibablauf beinhaltete zwar viel Arbeit mit dem Notizbuch und Entwürfen für Charaktere, Konflikte und Handlungsverläufe, allerdings war noch einiger Platz für Optimierung enthalten. So muss ich beim Schreiben immer noch viele Anpassungen vornehmen, für Korrekturen und das Auflösen von Anschlussproblemen zurückspringen und bin mit dem Ablauf eher mäßig zufrieden.
Wenn man sich nun mehr Struktur wünscht, kann man entweder selbst eine solche erarbeiten oder man bedient sich einer der zahlreichen Methoden, die es ohnehin schon gibt. Gute Kritiken hat die „Schneeflocken-Methode“ von Randy Ingermanson erhalten.
In einem kleinen gemütlichen Schreib-Discord (den ich hier bewusst erwähne, aber nicht verlinke) probiere ich also derzeit mit Belchion (den man eher aus der Rollenspielszene kennt) aus, wie die Vorgehensweise funktioniert. Dabei halten wir uns in erster Linie an den Ablauf nach Harry Bingham.

Die Schneeflockenmethode arbeitet mit dem fraktalen Schneeflockenmodell, das im Bild oben dargestellt ist: Man legt erst eine Grundform fest – Punkt 1, fasse die Story in einem einzelnen Satz zusammen – und erweitert davon ausgehend Schritt für Schritt die Details. Dadurch entsteht am Ende eine individuelle Geschichte aus einem Anfangs eher schematischen Planungsvorgang.

Derzeitiger Stand: Wir sind bei Punkt 5, der Charakterisierung der wichtigsten Figuren. Bisher finde ich die Methode logisch aufgebaut und bin erstaunt, wie gut das strukturierte Aufschreiben Punkt für Punkt funktioniert.
Normalerweise richtet sich die Schneeflockenmethode an Romanautoren. Unser Ziel ist eher eine Kurzgeschichte um 5000-10000 Wörter. Das tut dem Ganzen aber keinen Abbruch, sondern macht die Handlung und Charaktere eher übersichtlich und hilft, mehr Stringenz zu etablieren. Gerade in gerafften Formaten soll ja der Kern der Geschichte knackiger präsentiert werden und muss daher im Kopf oder den Notizen des Autoren auch klarer formuliert sein.
Meine Hoffnung ist, dass dies das Mäandern der Handlung verhindert und mich insgesamt anleitet, fokussierter zu schreiben und unnötige Szenen und Figuren besser zu erkennen. Idealerweise kann ich sie dann schon streichen, bevor ich Arbeit investiere, sie auszuschreiben.

Insgesamt bin ich sehr gespannt, wie sich das auf den eigentlichen Schreibprozess auswirkt. Ich werde mir wohl die Bücher von Ingermanson besorgen (Sowohl „How to write a novel using the snowflake method“ als auch „How to write a dynamite scene using the snowflake methode“) und intensiver mit dem Ansatz arbeiten.

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