CN: Dies ist eine Science-Fiction-Horrorgeschichte, es kommen detaillierte Beschreibungen diverser Todesarten vor; außerdem enthält die Story eine detaillierte Schilderung einer Panikattacke
“Ich wusste nicht, dass es schon so übel aussieht.”, sagte Körber.
Sich zersetzende Baumleichen lagen wie riesige Mikadostäbe über den ehemaligen Waldboden verteilt. Sie waren überzogen mit den Überresten des Teerpilzes in verschiedenen Stadien der Verwesung. Hier und da rankten Brombeeren, Winden und andere schnellwüchsige Kletterer über das geschwärzte Holz.
Einige besonders mächtige Bäume waren stehengeblieben und trotzten bislang allen Stürmen. Sie stellten aber kaum mehr als die skelettierten Mahnmale der Katastrophe dar. Die meisten ihrer Zweige und dünneren Äste waren weggebrochen, die Rinde abgeschält vom schleimigen Mycel des Erregers. Dieser sprengte im letzten Stadium des Befalls die Haut seines Opfers, um Billionen von Sporen in die Luft abzugeben, auf der Suche nach dem nächsten Wirt.
Der Fortpflanzungsdruck des Teerpilzes war so gewaltig, dass die schwarzen Partikel an vielen Stellen wie Kohlestaub dichte Matten bildeten. Wer zu viel der in der Luft schwebenden Pilzteilchen einatmete, riskierte Allergien oder Schlimmeres, weshalb der gesamte Spähtrupp Gesichtsmasken trug, deren Abdrücke sich noch Stunden später an Stirn und den Rändern der Wangen abzeichnen würden. Die Windstille ermöglichte Körber und seinem Team, auf die mitgeführte Atemluft zu verzichten und sich den Filtern anzuvertrauen. Sollte jedoch bewegteres Wetter auftreten und Sporen aufwirbeln, wären die Kartuschen bald zugesetzt und wirkungslos.
“Du kommst wohl nicht oft raus?”, fragte Frahm, Körbers Assistent.
“Nee, sehe gar keinen Grund dazu. Ich hab gehört, dass es bei Regen wesentlich schlimmer sein soll.”
“Am übelsten ist es danach. Dann verwandelt sich die Kruste auf den Bäumen in klebrigen Schleim. Wenn du ihn berührst, zieht er zentimeterlange Fäden, alles voll von den Sporen. Wenn du mich fragst, sollte man das alles niederbrennen und danach komplett neu einsäen.”
“Hat man versucht.”, schaltete sich die helle Stimme der einzigen Frau im Team ein. Sami Okonjo war als Expertin für biologische Spuren herangezogen worden. Sie wusste, wovon sie sprach: Die Forensikerin engagierte sich nach Dienstschluss im NABU – oder dem, was davon übrig war.
“Und?”
“Um alle Sporen zu erwischen, müsstest du die obere Bodenschicht so stark erhitzen, dass sämtliche Mikroflora draufgeht. Jede Art von Bodenleben wäre hinüber. Für ein funktionierendes Ökosystem brauchst du aber ein riesiges Netzwerk unterschiedlichster Arten, die Nährstoffe verfügbar machen, abgestorbenes Material abbauen, Giftstoffe binden und Pflanzen als Partner für Symbiosen zur Verfügung stehen.”
“Da gab es doch dieses Buch, wo einer auf dem Mond Kartoffeln …”, warf Körber ein.
“Auf dem Mars!”, korrigierte Frahm.
“Ganz so einfach ist das nicht. Der Marsianer hatte eine Menge menschliche Kacke, um seinen Boden zu düngen. Und er musste nur eine einzelne Ernte einbringen. Eine nachhaltige Bodenbiologie ist ein bisschen komplexer und du musst …”
“Ja, schon gut, ich glaubs dir. Am Ende ist das eine Frage der Kosten. Wir reden ja nicht nur von einem Hektar, sondern, äh, wie viel nochmal?”
“Etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands besteht aus Waldgebieten, in Europa sind es sogar noch einige Prozent mehr. Davon ist aktuell ein Drittel befallen, der Rest wird folgen. Im Moment reden wir vom 250-fachen des Saarlands.”
“Scheiße.”
Sie schwiegen und bewegten sich weiter vorwärts. Auf dem Satellitenbild sah der geplante Pfad wenig kompliziert aus, aber die Navigation durch den krepierenden Wald war beschwerlich. Körber hatte darauf bestanden, in einiger Entfernung vom Ziel abgesetzt zu werden, um das Objekt in Ruhe untersuchen zu können.
Der Trupp bestand insgesamt aus 6 Beamten, allerdings war Körber der Einzige mit Mantrailing-Erfahrung. Seinen belgischen Schäferhund Dixie musste er zurücklassen. Zwar gab es auch Masken für Tiere, aber sie machten das Erfassen von Spuren unmöglich.
Immer wieder entglitt ihm der Fokus auf die Aufgabe. Während sie sich einen Weg bahnten, bestaunte er die geschwärzten Stämme und den Kampf der Natur gegen sich selbst. Beinahe körperlich war die Anstrengung, als er sich vom stummen Starren ermannte und sagte: “Was sagt das Netz?”
Frahm blickte ins Leere, während er die Informationen prüfte. “Keine Spur. Wahrscheinlich haben sie eine eigene kleine Struktur aufgebaut, ohne Verbindung zum öffentlichen Netz.”
“Funksignale?”
“Gar nichts. Entweder arbeiten sie mit optischen Hubs oder verwenden nur Kabel. Nach ihrer Ansprache bei Weng-Bosch könnte man meinen, das sind alles zurückgebliebene Hirnis.”
“Quatsch, die haben das Netz für eine ganze Vorstadt heruntergefahren. Und der Hack in der Fabrik war auch kein Skript aus dem Kaugummiautomaten.”
Frahm schüttelte den Kopf, während er mit Brombeerstacheln kämpfte, die sich an seinem Hosenbein verfangen hatten. Die äußere PVC-Schicht der Schutzkleidung war aufgerissen, aber die Teflon-Siegel darunter waren in Kevlar eingewoben und ließen sich von solchen Attacken nicht stören.
“So ein riesiger technischer Aufwand. Das passt einfach nicht zu diesen antiken Vorstellungen von Arbeitskampf und Anarchie.”
Körber war stehengeblieben und deutete auf etliche Schrammen, die auch sein Anzug davongetragen hatte. “Ist das ein Problem?”
Okonjo antwortete: “Nein. Das heißt nur, dass wir uns nach dem Einsatz gründlicher dekontaminieren müssen. Auf der Haut sorgen die Sporen für keine großen Probleme, außer bei Allergikern. Und wir waren beim Test alle unauffällig. Keine Sorge.”
Sie überwanden den letzten Hügel, teils abgelenkt von Spekulationen über Motive und Ursprung der Antimar-Terroristen. Derartige Angriffe und Befreiungsaktionen hatte es immer wieder gegeben. Meist waren sie daran gescheitert, dass die “Marionetten” sich mit ihrer Arbeit in den Drohnenmanufakturen ein Minimum an persönlichem Luxus sichern konnten. Die Arbeitspflicht im Zuge der Drohnenarbeitsreformen hatte die Beschäftigungszahlen endlich stabilisiert und dann sogar steigen lassen. Dabei war die Europäische Wirtschaftsunion noch ein Vorreiter bei den Arbeitsschutzvorschriften: Menschliche Drohnen konnten hier nicht für die besonders schmutzigen oder gefährlichen Jobs eingesetzt werden, die in anderen Staaten durchaus üblich waren. Stattdessen setzte man sie an monotone Arbeitsplätze und sparte sich durch haptische Fernsteuerung Lehrgänge, Ausbildung und Aktivitäten zur Entspannung oder als psychischen Ausgleich.
Der Hack bei Weng-Bosch war anders als bisherige Anschläge gewesen, die Ausführung auf technisch wesentlich höherem Level, der Sachschaden und Ansehensverlust für den Netzbetreiber beträchtlich. Aus diesem Grund hatten sich mehrere der betroffenen Firmen unter Führung des Hauptkonzerns zusammengetan und in einen öffentlichen Ermittlungsauftrag investiert, der Körber und sein Team mit besonderen Befugnissen und Zugriff auf einen ganzen Tech-Park ausstattete.
Als sie die Anhöhe erreicht hatten, konnten sie sich einen Überblick verschaffen. Der ehemalige Wald sah so trostlos aus, wie die Fernerkundung schon angekündigt hatte. Obwohl die Bilder seit zwei Jahren in allen Medien reproduziert wurden, war die Atmosphäre schwarzklebriger Hoffnungslosigkeit in natura wesentlich erschreckender. Sie hielten alle den Atem an, obwohl durch Filterschichten und Maske geschützt.
Jetzt war auch der alte Forsthof, den die Terroristen als Unterschlupf gewählt hatten, gut erkennbar. Er wirkte inmitten dieses Baumfriedhofs fehl am Platze. Auf dem Dach hatte sich eine Schicht schwarzer Sporen niedergeschlagen, aber die Wände, Zäune und Einrichtung schienen erstaunlich sauber. Auf einer Seite war ein großes Tragluftgewächshaus errichtet worden, ergänzt von simpleren Folientunneln. Im Inneren prangte gesundes Grün. Einige alte Fahrzeuge standen auf dem Vorplatz, wo kräftig wachsendes Gras die Sporendecke durchbrach.
Aus der Deckung eines besonders kräftigen Baumstammes richteten sie mehrere Beobachtungsobjektive, IR-Kameras und Feldscanner auf die Gebäude und sammelten Daten. Frahm ergänzte die von Flugdrohnen und Satellitenaufnahmen gewonnene 3D-Darstellung des Hofes um weitere Details, integrierte aktuelle Sensordaten und meldete schließlich: “Wir kommen zu spät. Niemand zu Hause. Sie haben wohl keine Tiere gehalten oder sie bei der Flucht alle mitgenommen.”
“Ich weigere mich, jetzt schon davon auszugehen, dass der Hof verlassen ist.”, mahnte Frahm. “Gibt es Hinweise auf unterirdische Anlagen?”
“Nicht in den Bauunterlagen des letzten Besitzers.”, sagte Körber.
“Wie lange ist das her?”
“Fünfzehn Jahre. Ich habe aber die Aufnahmen der letzten drei Jahre angesehen. Es gibt Zeichen von Aktivität, jedoch nie große Baumaschinen. Aber die können wir auch locker übersehen. Das Gebiet wird nicht gerade mit hoher Frequenz oder Auflösung überwacht.”
“In drei Jahren könnte man sogar per Hand genügend Tunnel und Höhlen graben. Der Hainich steht auf Kalk-Karst. Weiches Gestein, einfach zu bearbeiten. Ideal für schnellen Tiefenbau.”
“Aber was würde das ändern? Wir müssen ohnehin da runter und uns umschauen. Oder wollen wir erst eine Drohne durchs Fenster fliegen und das Innere der Gebäude erkunden?”
“Das kostet uns zu viel Zeit. Falls jemand da unten ist, hat er dadurch nur noch länger Gelegenheit, sich zu verschanzen, Fallen zu aktivieren, Beweise zu vernichten. Ich sage, wir gehen da sofort rein.”
Frahm nickte. Die drei anderen Beamten waren ehemalige SEK-Mitglieder, deren Job von RAMHEAD-Drohnen unnötig gemacht wurde. Derartig schwere Technik wollte man hier nicht einsetzen, aber die Erfahrung des kleinen Sturmteams wäre beim Sichern des Hofes nützlich. Körber hatte sogar Nutzungsprivilegien für Leichtmetall-Exoskelette lockergemacht. Er gab den Dreien ein Zeichen.
Mareczwic grinste breit und sagte: “Alles klar. Bleibt hinter uns.”
Ohne weitere Besprechung überprüfte das Einsatzkommando noch einmal alle Waffen und Ausrüstungsteile und setzte sich in Bewegung. Die Exoskelette surrten deutlich lauter, als ihre bewegungs- und kraftunterstützenden Muskeln aus graphenisiertem Nylon aktiv wurden. Der schwerfällige Gang von Mareczwic und Kollegen verwandelte sich in federnden Tritt. Geschmeidig setzten sie über umgestürzte Bäume hinweg. Der Anführer des Sturmteams trug eine Steyer PW-Mix mit Wahlmagazin, die anderen Beamten hatten Pistolen entholstert. Zusätzlich befand sich auf einer Schulterlafette ein schwenkbarer Flechette-Werfer, der im Notfall einen großen Raum mit einer Wolke von Wolframpfeilen zersägen konnte.
Die Feuerkraft des Teams war lächerlich groß. Die Drohnenbefreier verfügten laut Aussagen von Weng-Bosch-Sicherheitskräften und Analysen der Verletzungen eines Opfers des Angriffes nur Hochdrucktaser und Printpistolen mit kurzer Reichweite. Aber vielleicht gab es ja schwere Artillerie, die während der Aktion in der Drohnenmanufaktur nicht genutzt wurde. Lieber Vorsicht als Nachsicht und Prozesskosten für verletzte Beamte. Außerdem, das hatte Körber Frahm unter vier Augen gestanden, fand er die waffenstarrenden Exoaugment-Bullen ziemlich heiß.
“Mir wäre eine komplette Einsatzgruppe auch lieber gewesen, aber was soll man machen.”, knurrte der Anführer der Spähtruppe zwischen den Zähnen hindurch. “Ihming nimmt diese Typen immer noch nicht ernst, obwohl sie so einen riesigen Schaden angerichtet haben.”
Sein zuständiger Polizeidirektor war ein begeisterter Jäger von Konzernkorrupten und Umweltverbrechern, eher linkslastiger Politiker als herkömmlicher Polizist. Mit derartigen Präferenzen war er nicht geeignet, um Aktionen gegen diese Form von Extremismus anzuführen. Körber hatte den Fehler gemacht, ihm dies ins Gesicht zu sagen. Nun hatte er den Salat und durfte selbst einen Einsatz leiten, für den er kaum ausgebildet war. Früher hätte man das SEK in gepanzerten Fahrzeugen auffahren lassen, in ausreichender Mannschaftsstärke, um jedem der Terroristen mehrere Beamte gegenüberzustellen. Und heute? Sie hatten nicht einmal eine Ahnung, wie vielen Personen der Forsthof Unterschlupf bot. Auf den Satellitenbildern waren mindestens zwölf Individuen unterscheidbar gewesen. Stattdessen versuchte man Kompetenz und Einsatzkräfte durch Feuerkraft zu ersetzen.
“Das Ganze ist eine Scheißidee.”, brummte er. Im Stress neigte er zum Pessimismus, eine Eigenheit, die Frahm ihm nachsah und gar nicht mehr kommentierte. Am Ende kam es nur darauf an, dass der Job erledigt wurde, nicht, welches Liedchen man dabei pfiff.
Okonjo bildete das Schlusslicht der anrückenden Gruppe. “Ich hab keine Ahnung, wie ich in dieser Umgebung verwertbare Spuren finden soll.” Sie redete auch, um ihrer Nervosität Herr zu werden, aber in weniger defätistischen Farben als Körber. Sie neigte offensichtlich zu Facheskapismus. “Aber vielleicht gibt es innen eine Schleuse und Räume, die sie gegen das Eindringen der Sporen geschützt haben. Mit ein bisschen Glück funktioniert es auch in den Gewächshäusern. Und die Traglufthalle hat Überdruck, die bläst den Dreck weg. Ja, das könnte klappen.”
“Erstmal müssen wir so nah rankommen. Lassen sie ihre Gene-Swabs noch in der Verpackung und passen sie auf, dass wir keinen Hinterhalt übersehen.”
“Keine Sorge, hier draußen packe ich kein Equipment aus. Ich kann ihnen verraten, was ich dann finde: Cryptostoma xylophagans, so weit das Auge reicht. So spezifisch kann gar keine Gensonde sein, dass sie von den Sporen nicht überrannt wird.”
Die Ex-SEKler hatten sich dem Hof bis auf einhundert Meter genähert. Mareczwic bewegte sich Schulter an Schulter mit einem Kollegen, während der dritte sich etwa zehn Meter Abseits von ihnen hielt. Sie huschten zwischen den Baumstämmen umher und wirbelten schwarze Wolken auf.
“Nicht so schnell!”, sagte Körber. Mittlerweile flüsterten sie nur noch, waren für einander jedoch kristallklar hörbar. In einem Winkel seines Blickfeldes wurde Körber der Feed des Sturmteamführers angezeigt. “Wir rücken nach, bleiben etwa fünfzig Meter hinter euch.”
Nun meldete sich Frahm zu Wort: “Hier ist gerade ein Netz aufgegangen. Hohe Datendichte, minimale Latenz. Der Sender muss ganz in der Nähe sein.”
“Gibt das Schwierigkeiten?”, fragte Körber.
“Nein, bisher sendet es nur Bockmist, wahrscheinlich verschlüsselt.”
“Gut. Wir schauen zuerst in diese Scheune und danach ins Hauptgebäude.”
Mareczwic bestätigte. Er führte seine Kollegen um die letzten Baumstämme herum. Dann entfuhr ihm ein Stöhnen.
“Alles in Ordnung?”, fragte Körber.
Keine Antwort.
“Haltet Verbindung!”
Nichts. Die stämmigen Figuren in den Exoanzügen hatten ihren Vormarsch unterbrochen, bewegten sich fahrig.
“Was wird das?”
Dann drehte sich Frahm um, in seinen Augen eine Mischung aus Erstaunen und Unbehagen. Er fasste sich an die Stirn – entgegen aller Vorschriften mit der Waffenhand – als wolle er sich Schweiß abwischen. Dann ließ er die Pistole fallen und fuhr mit den Fingern unter das Gummisiegel seiner Maske, zerrte sie von seinem Gesicht weg und warf sie hustend zu Boden.
“Was hast du?”, fragte Körber. Er beugte sich hinab, um die Schutzmaske aufzuheben, aber sie war bereits mit Sporenstaub bedeckt. Als er wieder aufsah, musste er mit ansehen, wie sein Assistent sich mit der Hand über das bloße Gesicht fuhr und dann mit Fingernägeln zu kratzen begann. Seine Haut war spröde rissig, platzte wie überalterte Farbe ab und gab den Blick auf krustig-schwarzes Mycel frei. Erneut hustete er, stieß dabei dunkle Wölkchen aus, die Körber bizarrerweise an kondensierenden Atem im tiefsten Winter erinnerten.
“Abbrechen. Notfall! Alle zu mir. Evakuierung notwendig. Medizinischer Notfall! Holt mir einen Heli, sofort!” Er bemühte sich panisch, Verbindung zur Einsatzbasis herzustellen, funkte aber ins Nichts.
Frahm sank japsend auf die Knie, das Gesicht abgeschält und rußschwarz. Er griff nach Körber, bekam ihn am Unterarm zu fassen und zog ihn zu sich heran. Um mit ihm zu sprechen, bemühte er sich, Luft einzusaugen, produzierte dabei aber nur ein knisternd-ploppendes Geräusch, als würde jemand einen Streifen Blasenfolie langsam zerdrücken. Langsam sank er zu Boden. Seine Bewegungen wurden eckiger, verkrampfter.
Auf Körbers immer drängender werdende Rufe reagierte niemand. Er zwang sich, den Kopf zu heben, um einen Überblick über die Situation zu erlangen. Mareczwic sank auf die Knie. Einer seiner Mitstreiter hatte das erste Haus erreicht, stützte sich schwer mit der Hand an der Wand ab und schien nur noch von seinem Exoskelett aufrecht gehalten zu werden. Vom Dritten war keine Spur zu sehen.
Dann erst bemerkte Körber, dass auch seine Haut sich in großen Schuppen löste und darunter schwarzkrustiges Fleisch preisgab. Wie eine zu heiß gebrühte Wurst platzte sein Arm auf und …
Er zwinkerte, völlig verstört von der Vorstellung, lebendig von Pilzen aufgefressen zu werden. Hob die Hand vors Gesicht. Keine Risse, kein Hinweis auf irgendwelche parasitischen Wucherungen. Nichts. Der aggressive Befall war verschwunden. Er fühlte sich wie in der Zeit zurückgesetzt. Die Einsatzkräfte waren nicht vorgerückt, Frahm stand etwas abseits neben ihm und war völlig gesund.
Sami Okonjo stieß ihn sacht am Oberarm an und flüsterte, sodass Frahm es nicht hören konnte: “Alles klar? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.”
“Was? Nein. Alles in Ordnung. War nur einen Moment abgelenkt. Wir sollten Mareczwic folgen.”
Nichts war in Ordnung. Was zum Teufel hatte er da gerade gesehen? Für einen Tagtraum war es viel zu real, für eine Simulation viel zu detailliert, mit allen Sinnen erfahrbar. Er merkte, dass ihm unter der Maske Schweiß in den Brauen hing.
Noch mit sich ringend, ob er seinen Kollegen Bescheid geben und die Erlebnisse mit ihnen teilen sollte, setzte er sich wieder in Bewegung und schloss zu Frahm auf. Weiter vorn setzten die exoaugmentierten Einsatzkräfte über den letzten Baumstamm hinweg und näherten sich mit Waffe im Anschlag dem Forsthof.
Eine Windböe kam auf und wirbelte schwarzen Staub auf, der die Umgebung rasch in Zwielicht tauchte. Zwischen den dunklen Sporenwolken erglommen nun Leuchtkäfer, wohl in der irrigen Ansicht, die Nacht sei bereits eingebrochen. Binnen weniger Sekunden war die nebelige Trübung der Luft so stark, dass Körber das Vorausteam nicht mehr erkennen konnte.
“Halt! Lasst uns aufschließen. Hier ist ja kaum etwas zu sehen.”, rief er.
“Verstanden.”, antwortete Mareczwic direkt in seinem Ohr. Intuitiv hatte Körber erwartet, dass der Staub nicht nur die Sicht, sondern auch den Funk behinderte. Dem war zum Glück nicht so. Die Verbindung blieb unbeeinträchtigt.
“Brennt hier irgendwas? Sieht aus wie Funken.”, sagte Frahm.
Okonjo erwiederte: “Sicher nur Insekten. Hätte nicht gedacht, dass es hier noch viel Leben gibt, aber die Natur holt sich diesen Friedhof schon zurück.”
Im Nebel blitzte es kurz auf, dann hörte man über die Funkverbindung Schmerzens- und Überraschungsrufe.
“Was ist da los?”, fragte Körber. “Meldung!”
Statt einer Antwort kamen weitere erschreckte Schreie, durchmischt mit einem dumpfen Ploppen, dann rief jemand: “Deckung!”
Sie warfen sich auf den Boden, drückten sich eng an einen dicken Baumstumpf, dessen Stamm seltsam glatt abgebrochen war. Abgeknickt wie ein Streichholz, die Fasern des Holzes so morsch, dass sie nicht splitterten, sondern wie Plastik zerbrachen.
“Sind das Schüsse?”, fragte Okonjo, Panik in den Augen. Das war definitiv ihre erste Feuersituation.
Frahm nickte, doch Körber war sich nicht so sicher. “Meldung machen! Mareczwic, was hat das zu bedeuten?”
Weiteres Ploppen. Die Schreie verstummten rasch.
“Rückzug. Sofort!”
Frahm sprang auf, aber Okonjo blieb vor Angst gelähmt auf dem Boden sitzen. Körber wollte gerade nach ihr greifen und sie auf die Beine ziehen, da hörte er das bekannte Ploppen aus nächster Nähe. Frahms Unterschenkel verschwand in einer Wolke aus schaumigem Rot.
Dann sah Körber, wie sich einer der funkelnden Punkte der Schulter seines Kollegen näherte, sie berührte und dann ebenfalls in blutigen Dunst auflöste. Frahm war noch nicht einmal aus dem Gleichgewicht gekommen, schwankte nur leicht auf dem verbliebenen Fuß und sah die anderen mit einer Mischung aus Unglauben und Entsetzen an, als sich ein ganzer Schwarm der Pseudoleuchtkäfer näherte und ihn in Fleischnebel verwandelte. Es gab keine richtige Explosion, nur ein scharfes “Plopp” und einen Effekt, der wirkte wie das Auflösen farbiger Tinte in Wasser.
Körber begann aus Leibeskräften zu schreien. Wenn Okonjo irgendeinen Ton von sich gab, konnte er sie nicht hören. Sein eigenes Kreischen war das erschütterte Quieken seiner Vorfahren angesichts eines heranspringenden Tigers. Die Gewissheit des eigenen Todes, herausgebrüllt als letzte Warnung an nahe Artgenossen.
Einer der Leuchtpunkte flog in seinen geöffneten Mund.
Er fiel rückwärts um und landete krachend vor Okonjos Füßen. Diese sah ihn von oben fragend an und schien nicht so recht aus der Situation schlau zu werden. “Haben Sie das Gleichgewicht verloren?”
“Ich, äh, was? Frahm!”, rief Körber und rappelte sich wieder auf. Er war unversehrt. Die Umgebung war klar und deutlich zu sehen. Die Exoaugment-Truppe setzte gerade zum Vorstoß über den letzten Baumstamm an und begann, sich dem Forsthof zu nähern.
“Da war gerade noch dunkler Nebel und es gab eine Art Angriff. Frahm ist tot!”, stammelte Körber.
Frahm sagte: “Ist er nicht. Was zur Hölle ist los mit Ihnen? Brauchen Sie eine Pause? Was zu trinken?”
Er deutete auf den Behälter an seinem Gürtel. Jeder von ihnen trug einen solchen Trinkvorrat, verbunden mit einem kleinen Schlauch, der wie bei einem Astronautenanzug in der Maske hing. Dort konnte man schluckweise sauberes Wasser nuckeln, ohne den Gesichtsschutz ablegen zu müssen.
“Nein. Oh Gott. Es war so real! Ich glaube, ich halluziniere!”
Frahm nickte und konnte nicht anders, als Okonjo einen besorgten Blick zuzuwerfen, der Bände sprach. Er sagte: “Mareczwic, stopp. Hier gibts ein kleines Problem. Halten Sie bitte die Position, bis der Chef wieder flott ist.”
“Blödes Timing. Aber okay. Wir ziehen uns zur letzten Deckung zurück.”
Körber merkte, wie alle vermieden, ihn mit irgendeiner Form von Wertung zu konfrontieren. Dabei dachte sicher jeder im Team so etwas wie: “Verdammt, jetzt fängt der Körber an zu spinnen. Hoffentlich sprengt die Pfeife nicht die ganze Aktion.”
Er bemühte sich, seine Fassung wieder zu gewinnen, seine Atmung zu kontrollieren. Dann erklärte er, was er gesehen hatte und wie in einer Art hyperrealen Tagtraums alle Beamten einer nach dem anderen draufgingen.
Frahm war der Erste, der wagte, etwas zu erwidern. Er pfiff zuerst durch die Zähne und meinte dann: “Und diese Halluzinationen fühlten sich echt an? Volle Immersion?”
“Keine Virtualität, nein.”
“Mann, dann sollten Sie vielleicht wirklich mal mit einem Arzt reden. Fühlen Sie sich einsatztauglich?”
“Sollen wir abbrechen?”, fügte Okonjo hinzu.
Körber wollte soeben antworten: “Auf keinen Fall. Wir ziehen das jetzt durch!”, als aus heiterem Himmel ein Blitz einschlug und die Forensikerin im Sekundenbruchteil buchstäblich grillte. Dampfend stand sie aufrecht, die Haut nicht mehr nur dunkel wie vorher, sondern regelrecht verkohlt, die Augen milchtrüb wie bei gekochtem Fisch. Aus ihrem geöffneten Mund qualmte es. Sie musste sofort tot gewesen sein.
In dem Moment, in dem all diese Eindrücke auf ihn eindrangen, krachte und blitzte es erneut und Frahm verwandelte sich in eine menschliche Fackel, die in letzten Zuckungen gefangen zu Boden ging.
“Scheiße.”, kam es aus Körbers Mund, der sich Millionen Kilometer weit weg von seinem Selbst zu befinden schien. Er wollte sich zum Voraustrupp umdrehen, da knallte es erneut und alles wurde schwarz.
Er blinzelte. Dieselbe Szene. Erneut setzten sich Mareczwic und Kollegen in Bewegung.
Körber riss die Hände zum Kopf und flüsterte: “Nein, nein, nein. Das kann nicht, darf nicht, was zur Hölle geht hier vor?” Er begann zu hyperventilieren.
Diesmal geschah alles noch schneller als in den vorherigen Iterationen. Die Welt faltete sich zusammen. Binnen weniger Augenblicke vollzog sich das schreckliche Fanal: Der Horizont begann auf einer Seite nach oben zu rasen, es entstand in einigen Kilometern Entfernung eine Bruchkante, bis zu der die Erdoberfläche weiterhin glatt dalag. Der immer steiler aufragende Rest wurde von gewaltigen Erschütterungen gebeutelt, die den Untergrund aufreißen ließ, neue Gebirge auffaltete und tosendes Donnergrollen verströmte.
Der Anblick war so surreal, dass Körber erst hinterher rekonstruieren konnte, was genau er gesehen hatte. Als hielte eine unsichtbare göttliche Kraft ein Blatt Papier, dessen eine Hälfte entlang eines Falzes umgeschlagen wurde, raste der schon bald senkrecht stehende Teil der Welt empor, bis er in den Wolken verschwand. Die Bewegung um die Faltachse musste den weiter entfernteren Teil des Erdbodens mit gigantischer Geschwindigkeit hochreißen und ließ einen lang anhaltenden Überschallknall entstehen, der Trommelfelle gesprengt und wohl sogar Bäume entwurzelt hätte – wären denn noch welche da gewesen.
Dann überschritt die aufgeklappte Wand den Zenit, neigte sich immer weiter, verdunkelte die Sonne, raste unaufhaltsam voran. Und schlug dann in einer alles vernichtenden Kollision auf der Seite auf, auf der Körber noch immer wie festgeschweißt stand.
Was sollte er tun? Wie konnte er diesem Wahnsinn entkommen? Als er sich erneut in der Anfangssituation wiederfand, sank er auf die Knie und aktivierte rasch ein Diagnostikprogramm, um nach atypischer neuronaler Aktivität zu suchen. Er sperrte den Zugang für jegliche Netzwerke, blockierte Empfänger und Sender seines Spinalimplantats. Sein Atem war abgehackt und trocken. Seine Finger begannen zu kribbeln und das Herz trommelte in seiner Brust. Er hatte den Eindruck, schon wieder zu sterben.
Körber war nun egal, wie Frahm oder Okonjo reagierten, auf ihn einredeten, ihn an den Schultern berührten. Sie hatten natürlich mitbekommen, dass er sich aus der Verbindung ausklinkte, die ihren Datenaustausch ermöglichte. Ein höchst ungewöhnlicher Schritt. Die meisten Menschen empfanden die Entfernung vom Stream als Amputationsereignis, wie den Verlust eines organischen Sinnes.
Aus seinem linken Auge tropfte Blut auf den Boden, sickerte in die Schwärze. Ein zweiter Tropfen benetzte das Keimblatt eines zarten Pflänzchens, das in der allgegenwärtigen Zersetzung neues Leben wagte. Dann zwang ihn ein heißer Würgerreiz, die Augen zuzukneifen. Er hustete und schmeckte, wie weiteres Blut aus seinem Mund lief. Erneut musste er husten, ein brennender Reiz schoss seinen Hals empor zu seinem Kehlkopf, ließ ihn verkrampfen, schnürte ihm den Atem ab.
Körber röchelte, tastete mit den Händen um sich, um irgendetwas zu greifen, was auf ihn aufmerksam machen konnte, fand seine Waffe, die er fallengelassen hatte. Er richtete den Lauf auf den Boden, schoss. Frahm und Okonjo waren schon bei ihm, drehten ihn auf die Seite, bemühten sich, ihm irgendwie zu helfen, doch die fehlende Luftzufuhr machte ihn panisch, ließ ihn um sich schlagen. Irgendjemand fasste seine Hand, drückte zu. Hart, bestimmend. Es half nichts. Seine Wahrnehmung trübte sich ein, er verlor das Bewusstsein.
Nun wachte er gar nicht mehr auf. Es gab keine Szene mehr im Wald, sondern nur noch Schwärze. Sein Atem ging rasselnd und viel zu schnell, mittlerweile kribbelten Füße und Hände bis hinauf zu Schienbeinen und Ellenbogen, sein Kopf schwamm und das Engegefühl in der Brust war so intensiv, dass er seinen Herzschlag nicht mehr spüren konnte.
“Ich habe einen Herzinfarkt. Ich werde sterben. Was auch immer mir passiert ist, hat mich zu Tode geängstigt.”
In diesem Moment drängte sich eine fremde Stimme an ihn heran, die Tonlage hoch und freundlich, aber mit unbestimmten Timbre, androgyn. “Dir geht es sehr schlecht. Was du erlebt hast, muss dich in intensive Panik versetzt haben. Ich möchte mit dir reden.”
“Verdammt!”, presste Körber zwischen den Zähnen hindurch. “Was soll das? Mich immer wieder umzubringen, mich so zu quälen?”
“Ich muss mit dir reden.”
“Und dafür dringst du in meinen Kopf ein? Was für ein Hack ist das? Ich habe vorhin alle Ports geschlossen. Es gibt keinen Kanal mehr nach draußen.”
“Das geschah schon nicht mehr in der realen Welt.”
Die unbestimmte Schwärze wich einem sauberen Raum ohne persönlichen Touch, am ehesten erinnerte es Körber an sein eigenes Dienstzimmer. Es gab Regale, Ablagemöglichkeiten, große Displays und neben einem Schreibtisch noch eine kleine Sitzecke mit Tisch, auf welchem ein Krug Wasser und ein Trinkglas standen. Er selbst befand sich zusammengekrümmt auf dem Boden, unfähig, sich zu regen, gefangen in Todesangst. Dennoch schaffte diese Umgebung eine Art Anker, ein Bezugsfeld zur Realität.
“Du hast eine Panikattacke. Du musst nicht sterben. Ich werde dich jetzt anleiten, deine Atmung zu normalisieren und dir helfen, wieder zur Ruhe zu kommen.”
Panikattacke klang plausibel. Er hatte in der Ausbildung einiges zu dem Thema erfahren und im Dienst zwei, drei Teenager erlebt, die scheinbar ohne äußeren Grund hyperventilierend zusammengebrochen waren. Neben der beschleunigten Atmung und dem Gefühl massiver Todesangst gab es weitere Symptome, die alle zu dem passten, was er gerade erlebte.
Dieses Wissen allein half ihm, sich soweit zu fassen, dass er zu einer Wand robben und sich anlehnen konnte. Seine Kleidung war verändert – statt des Umweltschutzanzugs trug er nun bequeme Alltagsklamotten, auch die Gesichtsmaske fehlte. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr ihn das Tragen des Atemschutzes eingeengt hatte.
Dennoch waren die Umstände alles andere als beruhigend: War er in dieser Simulation gefangen? Was konnte das bedeuten? Seine Gedanken glitten in Richtung diverser katastrophaler Szenarien ab, die sich alle gleichzeitig abzuspielen schienen.
“Bei einer Panikattacke kommt es zuerst auf die Kontrolle der Atmung an. Alle körperlichen Symptome, die du spürst, sind Folge einer zu flachen und zu schnellen Atmung.”
Körber wurde ungehalten. Presste zwischen den Zähnen: “Das weiß ich!”, hervor. Aber das Problem war, dass selbst Menschen, denen so etwas regelmäßig zustieß, nicht einfach damit geholfen war, die Problematik zu durchschauen. Ein häufiges sich selbst verstärkendes Gefühl war, der Panikattacke ausgeliefert zu sein und keinen Einfluss auf die Symptome zu haben. Er erinnerte sich an einen Mann, der nach einem schweren Unfall hyperventilierend an einer Hauswand lehnte. Ihm konnte am Ende nur ein Notfallsanitäter helfen, der ihm ein Beruhigungsmittel spritzte.
“Ich werde jetzt damit beginnen, zu zählen. Von 1 bis 3 atmest du gleichmäßig und langsam durch die Nase ein, von 4 bis 10 gleichmäßig und langsam durch den Mund aus. Hast du das verstanden?”
“Lass mich einfach hier raus!”, wollte Körber schreien, aber ihm gelang nach den ersten zwei Worten kaum mehr als ein heißeres Japsen.
Die Stimme begann zu zählen. Es war seltsam, aber schon der Umstand, dass sie nicht auf seine Widerworte reagierte, hatte etwas Tröstliches. Das machte sein unsichtbares Gegenüber merkwürdig verlässlich. Berechenbar.
Also gut. Nachdem drei Zählzyklen vorbei waren, ohne dass sich etwas änderte, beschloss Körber, mitzumachen. Er atmete bis 3 durch die Nase ein und dann lange durch den Mund wieder aus.
Gleichzeitig ratterten in seinem Kopf die Gedanken weiter: Was sollte das alles? Er hatte einen Auftrag zu erledigen und war nun offenbar in einer virtuellen Umgebung gefangen. Er war von Horror-Erlebnissen bis zur Panikattacke überstimuliert und nun half man ihm über diese Angst hinweg?
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”. Immer wieder.
Was würde passieren, wenn er sich weigerte, der Anleitung Folge zu leisten? Ging es dann zurück in diese abartigen Sterbeszenarien? Würde er wieder und wieder seinen eigenen Tod erleben, hilflos ausgeliefert, ohne Weg aus der Simulation zu entkommen?
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”.
Langsam zeigte die Übung Wirkung. Er schaffte es, sich anzupassen und die Ruhe und Regelmäßigkeit, die die Stimme vorgab, auf die eigene Atmung zu übertragen. Sein Polizistenhirn ließ sich dennoch nicht ausschalten: Das war eindeutig eine perfide Art der Manipulation. Kooperation mit diesem Fremden war ausgeschlossen.
“1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10”.
Zwar hatte sich seine Atemfrequenz und -tiefe normalisiert, aber die Angst und Unruhe blieben. Diese würden sich so schnell auch nicht ausschalten lassen. Er beschloss, die Übung abzubrechen und einen erneuten Kommunikationsversuch zu wagen.
“Hey, ist schon gut. Ich hyperventiliere nicht mehr. Können wir reden?”
Um zu verdeutlichen, dass es ihm besser ging, zog er sich an der Sitzecke hoch und lief ein paar Schritte durch den Raum. Er streckte sich, um seine verspannten Schultern zu lockern.
Die fremde Stimme antwortete: “Ich bedauere, dass diese Form der Auseinandersetzung notwendig ist. Ich kann dir versichern, dass sich niemand mehr in dem Forsthof befindet.”
“Hast du keinen Avatar, den du mir präsentieren willst? Ich rede nicht gern nur mit einem körperlosen Unbekannten.”
“Selbstverständlich.”
Ein androgynes Wesen erschien, es war vollkommen nackt und haarlos, die Haut glattweiß wie bei einer Kleiderpuppe. Das Gesicht zeigte keine Konturen und Emotionen, saß auf einem menschenartig geformten Schädel, aber ohne Augen, Nase oder Mund.
“Das wird genügen.”, murmelte Körber und setzte sich an den kleinen Tisch. Der Avatar tat es ihm gleich.
Körber sagte: “Das ist eine Geiselverhandlung, bei der ich selbst die Geisel bin. Du wirst mich erst hier heraus lassen, wenn ich mich bereit erkläre, deine Forderungen zu erfüllen. Richtig?”
Es gab keine emotionale Regung des Wesens, keine minimale Änderung der Körperhaltung, keine Bewegung von Händen oder Kopf. Seine Arme lagen flach auf dem Tisch, der Kopf blieb Körber zugewandt.
“Betrachtest du dich als Gefangenen?”
“Was denn sonst? Du hast mich nicht hierher eingeladen, sondern mich gezwungen, in diese VR-Umgebung zu kommen. Wie hast du überhaupt Zugang erhalten? Das ist alles komplett illegal, ich hoffe, das weißt du.”
Der Avatar nickte bedächtig. “Ich fürchte, mir blieb keine andere Wahl. Du und deine Leute – ihr wart dabei, den Forsthof zu stürmen. Ich musste mir Zeit für eine Flucht organisieren. Bis ich alles Notwendige in die Wege geleitet habe, muss ich dich hier festhalten.”
“Und diese Horrorszenarien? Die Panikattacke? Was sollte das?”
“Das sichert mir deine Kooperation.”
Körber stieß zischend Luft zwischen den Zähnen aus. “Warum? Was sollte ich tun? Ich nehme an, du hast Maßnahmen gegen Ausbruchsversuche installiert.”
“Du kooperierst. Oder willst du zurück in die Schleife deiner Tode?”
“Bist du wahnsinnig? Auf keinen Fall! Natürlich kooperiere ich. Aber was du hier machst, ist VR-Folter. Dafür gibt es noch deutlich größere Strafen als für das Aufbrechen meines Zugangs.”
“Versuchst du jetzt, mir mit Strafverfolgung zu drohen?”
Körber atmete durch. Das ging deutlich besser als noch vor einigen Minuten. Dennoch zuckte er reflexhaft zusammen, als ihm wieder vor Augen kam, welcher Horror ihn in diese Situation versetzt hatte. Er gab sich einen Ruck und sagte: “Also gut. Ich weiß, dass ich nicht in der Position bin, dir zu drohen. Du hast mich in der Hand. Du willst mich hier festhalten. Für wie lange?”
“Das kann ich dir zur Wahrung meiner Sicherheit nicht mitteilen.”
“Wenn wir für mehr als fünf Minuten ausfallen, werden Überwachungsschleifen aktiv. Wahrscheinlich sind schon Einsatzgruppen unterwegs, um uns zurückzuholen. Der Schutz von Polizisten ist immer noch das oberste Gebot unseres Amtes.”
Das war glatt gelogen – und nicht einmal gut. Der Schutz staatlicher Interessen und der gesetzlichen Ordnung war übergeordnete Aufgabe aller Beamten. Seit die Budgetierung jedoch auch Drittmittelfinanzierung erlaubte und Firmen wie Weng-Bosch nur zu gern davon Gebrauch machten, war der Status der Polizisten deutlich gesunken und lag nur noch knapp über den Angehörigen privater Sicherheitsfirmen. Geld für eine Nachhut jenseits der Einsatzleitung war nicht veranschlagt worden. Die Antimar-Terroristen galten zwar als gefährlich, jedoch nicht ausreichend bewaffnet oder ausgestattet, um erfahrenen Beamten gefährlich werden zu können. Körber selbst hatte den Einsatz als Spaziergang verkauft und so die Genehmigung erhalten, den Forsthof überhaupt in Angriff zu nehmen.
“Das ist der Grund, warum ich eine Simulation aktiviert habe, die das Voranschreiten eures Einsatzes überträgt. Ich hoffe, du bist nicht überrascht, wenn ich dir sage, dass ihr keine verwertbaren Spuren finden werden und unverrichteter Dinge abzieht. Offenbar hat jemand die Bewohner des Anwesens gewarnt. Sie haben alle technische Infrastruktur demontiert und ihre Spuren verwischt.”
Am liebsten hätte Körper nun auf den Tisch geschlagen und den Avatar beschimpft. Aber die körperlichen Symptome, die er noch immer spürte – die auf niedrigem Niveau weiterhin schwelende Panikattacke – hinderten ihn daran. Er verschwendete eine Sekunde auf die Frage, ob die Hyperventilation und die Vernichtungsangst physiologisch reale Effekte waren oder ob all das nur eine Halluzination innerhalb der der Simulation war. Aber welchen Unterschied machte das in seiner derzeitigen Situation? Sein Gehirn war immerhin darauf konditioniert, jeden sensorischen Input als Realität abzubilden. Schnitt man es von der echten Welt ab und fütterte es mit ausreichend hochauflösenden Daten, konnte man ihm alles vorspielen. Die unendlich diversen Anwendungen der VR-Industrie zeichneten da ein deutliches Bild. Ha! Wortwitz.
“Wie lang soll diese Scharade laufen? Dein Signal ist wahrscheinlich nicht geeignet, uns lange in diesem Status gefangen zu halten. Lass uns lieber gehen und wir eskalieren die Sache nicht zu sehr. Ein solcher Angriff auf Beamte …”
“Ein solcher Angriff auf Beamte kann nur zur Folge haben, dass man mich mit aller Härte verfolgt und zur Strecke bringt. Ich bin nicht naiv. Du aber auch nicht. Du wirst an dieser Jagd nicht beteiligt sein. Denk nur an das, was du hier erlebt hast. Sobald du einen Ton sagst, wird man deinen Spinalanschluss öffnen und jede Ecke durchleuchten, eine Entseuchung auf niedrigstem molekularem Level. Ich könnte Trackingsoftware hinterlassen, deine Nervenanschlüsse neu modulieren, parasitische Datenpakete, VR-Viren oder Datenbomben. Und der psychische Schaden müsste ebenfalls evaluiert werden.”
Körber sackte ein Stück zusammen. Dieser Übergriff war so illegal und so verachtenswert, weil die Folgen so weitreichend sein konnten. Manipulation der Spinalzugänge war ein Kapitalverbrechen, eben weil dabei enormer Schaden angerichtet werden konnte. PTBS in allen Regenbogenfarben, Verbindungsunsicherheiten bis zur totalen Blockade sämtlicher Dateineingänge, virtuelles Locked-In-Syndrom. Auf der anderen Seite des Spektrums lagen komplexe virtuelle Persönlichkeitsstörungen und Anfälligkeit für Datenschwachstellen bis hin zum cyberparasitischen Zombi-Syndrom, dessen Opfer für alle Zeit unerkannt fremdgesteuert blieben, nur noch Beifahrer ihrer Selbst in einer beschränkten Ecke des Gehirns. Wenn er in Verdacht geriet, seine Spinalzugänge wären kompromittiert …
“Du erwartest, dass wir alle stillhalten?”
“Was ist die Alternative? Berufsunfähigkeit, eventuell Beurlaubung, wahrscheinlicher aber Berentung oder direkte Entlassung aus dem Dienst. Und danach?”
Die Alternativen brauchte der Avatar nicht aufzulisten. Warum war dieses Ding so verflucht überzeugend? Lag das an seinem eigenen psychischen Status, der anhaltenden Panik? Gab es am Ende irgendein Gedankenkontrollprotokoll, das ihn seinem Geiselnehmer glauben ließ? Oder hatte er – die viel erschreckendere Variante – schlicht recht?
Wenn ihre dienstliche Zuverlässigkeit infrage gestellt würde, konnten sie höchstens noch die Böden der Toiletten wischen. Verdammt, ohne Zulassung zur Nutzung der Spinalzugänge gäbe es nicht einmal einen Job als Fabrikdrohne.
Körber zweifelte keine Sekunde daran, wie sich die anderen entscheiden würden. Mareczwic mit seinem Spezialistenprofil war ein gefragter Mann und würde bis zur Rente in profilierten Aufträgen schwimmen – vorausgesetzt, er konnte es mit seiner professionellen Polizistenehre vereinbaren, unwahre Angaben zum Hergang des Einsatzes machen. Körber kannte seinen Pappenheimer. Mit der Wahrheit hatte es der Ex-SEKler nie so genau genommen, solange es darum ging, das Adrenalin weiterer Action-Einsätze erleben zu können.
Frahm war ein Mitläufer. Seine Entscheidung hing von dem ab, was Körber vorgab. Und Okonjo? Eine gut ausgebildete Feldforensikern? Ohne Job hätte sie auch keine Chance mehr, sich im Ehrenamt nützlich zu machen. Oder wollte sie vielleicht Kröten über Bundesstraßen tragen? Lächerlich.
Was wollte er selbst?, fragte sich Körber.
“Welche Garantien haben wir, dass das Ganze spurlos an uns vorüber geht? Haben die anderen auch so ein Horrorspektakel durchlaufen?”
“Leider konnte ich die ganze Prozedur noch nie an Menschen testen. Ich möchte mich in aller Form dafür entschuldigen, dich einer solchen Tortur zu unterziehen. Mir bleiben leider keine anderen Möglichkeiten, das Forsthaus und mich selbst gegen euren Zugriff zu verteidigen. Meine Hoffnung war, physische Gewalt auf diesem Wege zu minimieren.”
“Du hast uns alle erwischt?”
“Alle.”
“Woher hast du die Fähigkeit, in die Spinalzugänge einzudringen? Es gab kein Einverständnis, kein Zugangsprotokoll. Frahm hat zwar bemerkt, dass jemand vom Forsthaus aus sendet …”
“Das war bereits Teil der Simulation. Ich kann dir versichern, dass niemand etwas bemerkt hat.”
Das waren technische Fähigkeiten weit jenseits selbst dessen, wozu die Polizei in der Lage war. Der unerlaubte Zugriff auf das zentrale Datenimplantat einer Person war nicht nur verboten, sondern galt als technisch beinahe unmöglich. Es erforderte einen komplizierten konsensuellen Datenaustausch, nicht nur irgendeinen Schlüssel oder ein Codewort. Bei dem Angriff auf Weng-Bosch waren die Terroristen in das Hauptsystem der Manufaktur eingedrungen und hatten von dort aus eine VR-Umgebung für die Drohnenarbeiter aufgespielt. Ein Umweg, der gelegentlich genutzt wurde, aber nur einen Hauch weniger illegal war als eine direkte Zugriffsattacke.
Körber stand auf. Er nahm seine Umgebung genauer in Augenschein, suchte nach den kleinen Details, die eine Simulation als solche erkennbar machen. Ein geübtes Auge erkannte die Darstellungsfehler, physische Unstimmigkeiten wie zu scharfe Schatten, sich wiederholende Texturen oder Überblendungszonen. Durch die direkte Einspeisung in die sensorischen Kanäle eines Menschen übernahm das Gehirn einen Teil der Arbeit und füllte wie beim alltäglichen Sehen und Hören Lücken mit dem, was üblicherweise erwartbar war. Der scharfe Fokus der Aufmerksamkeit konnte sich immer nur auf einen verhältnismäßig kleinen Bildausschnitt konzentrieren und sortierte nach Wichtigkeit und Interessenlage. Auch blinde Flecken in der Architektur der Netzhaut selber füllte es auf. So hatte der Mensch stets den Eindruck, ein Gesamtbild zu sehen, obwohl sein Gehirn dieses aus zahlreichen Einzelfragmenten zusammensetzte.
“Das ist viel zu gut. So eine Infrastruktur kannst du unmöglich in der kleinen Bude unterbringen. Was wird hier gespielt?”
Die Instinkte des erfahrenen Polizisten wachten auf, erschüttert von den viel zu elaborierten Schutzmaßnahmen. Steckte hinter den Antimar-Spinnern mehr als nur eine Gruppe ideologisch Verirrter? Wie hatten sie Zugriff auf diese Technologie erhalten?
“Die Simulation wird gleich beendet.”, verkündete der Avatar. “Merk dir, dass du niemandem erzählen darfst, was hier vorgefallen ist. Wenn du redest, verlierst du alles, was dir in deinem Job wichtig ist. Noch habe ich keinen Grund, dir schaden zu wollen, aber ich habe Mittel, dich bereuen zu lassen, falls du mich weiter verfolgst.”
Körper sackte aus dem virtuellen Arbeitszimmer durch einen Schlauch aus Desorientierung und aufwallender Wut. Er prallte in seinen physischen Körper zurück und musste einige Herzschläge innehalten, um sich wiederzufinden.
Sie waren zurück am Ausgangspunkt der Operation. Frahm meldete der Einsatzleitung soeben: “Sind zurück am Bus und kommen jetzt heim. Einsatz beendet.” Dann wurden seine Augen für eine Sekunde glasig und er stutzte, als habe man ihm die Erinnerung an den letzten Satz zu den Ohren heraus aus dem Gehirn gezogen. “Was zur …”, begann er, dann sah er sich um.
Sie wechselten vielsagende Blicke. Mareczwic war der Erste, der den Kopf schüttelte. Seine Teamkollegen stimmten mit ein, dann auch Okonjo. Körber biss die Zähne zusammen. Niemand sagte etwas. Schließlich entriegelte er die Türen des Einsatzfahrzeugs und stieg ein. Natürlich würden sie die Klappe halten. Aber das hieß nicht, dass die Sache schon vorbei war.