Kurzgeschichte: „Erwachen“

Diese Geschichte verwendet nonbinäre Pronomen nach Illi Anna Heger. Alex ist ein nonbinärer Charakter und fühlt sich weder männlich noch weiblich. Das Pronom von Alex lautet “xier”.

Sie brauchten keine Musiker. Deswegen war er jetzt hier.
“Weniger Druck.”, mahnte Peter und zeigte seinem Schüler noch einmal, wie er den Bogen auf die Saite aufsetzte und sacht darüber zog. Ein gleichmäßiger Ton entströmte dem Cello. Der Klang tropfte aus dem Instrument wie dünnflüssig goldenes Harz und rann durch die Ohren direkt ins Herz, wo er sich in Wärme sammelte.
Otto schien wenig begeistert. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, angemessene Kleidung zu wählen. So saß er nun in einem Multifunktionsoverall auf der Bühne des leeren Konzertsaals. Es hatte Peter eine Menge Überzeugungskunst gekostet, seinen älteren Kollegen zu diesem Unterricht zu überreden. Das stoische Gesicht des Arbeiters verriet nur durch ein Zucken des Bürstenschnurrbarts, dass die Töne auf fruchtbaren Boden fielen.
Seine Hände packten den Bogen mit dem Feingefühl einer Rohrzange und zogen ihn mit der Eleganz eines Nilpferds. Er sprang und ratterte über die Saite, griff dann aber doch und erzeugte – endlich! – einen kurzen vernünftigen Ton, ehe der Klang wieder in Schnarren überging.
“Besser! Jetzt musst du dieses Gefühl nehmen – diesen Moment, in dem es gut war – du hast das doch gehört oder?”
“Ja, natürlich.”
“Gut. Das musst du nehmen und versuchen, es auszudehnen. Nach vorn ziehen. Schon in dem Moment, in dem du ansetzt, musst du spüren, dass die Bewegung viel früher begann, du setzt sie nur fort!”
Ein weiterer Ton, diesmal wesentlich besser. Peter klatschte in die Hände. Hatte er da im Auge seines Kollegen ein überraschtes Funkeln gesehen?
“Nochmal!”
Otto setzte erneut an, zumindest im Ellenbogen und Handgelenk etwas entspannter. Die Konzentration in seinem Gesicht sprach nun auch von der Neugier, welche Töne er diesmal erzeugen würde. Peter kannte den Ausdruck. Er bedeutete, dass er sein Gegenüber an der richtigen Stelle gepackt hatte. Viele glaubten gar nicht, dass sie in der Lage wären, einem traditionellen Instrument auch nur einen vernünftigen Klang zu entlocken. Zwar war der Schritt zu echter Musik noch weit entfernt, aber Otto konnte die Freude über die erzeugten …
Übergangslos stand Peter im Montageraum. Seine Augen tränten, offenbar war die Zwinkerkontrolle ausgefallen. Schwerfällig hob er die Hände, um sich über das Gesicht zu wischen und konnte den Fehler im letzten Moment unterbinden. Innerlich ermahnte er sich: “Halt – Reinraum – du trägst Handschuhe und Gesichtsmaske. Was du auf keinen Fall tun darfst, ist, irgendwas zu kontaminieren!” Während sein Blick sich langsam klärte, als die Pupillenmuskeln Kontraktion und Akkommodation wieder aufnahmen, kehrte auch der restliche sensorische Input zurück. Seine Ohren meldeten ein fiependes Störgeräusch, die Nase registrierte brenzligen Geruch von Heißlot und Kleber.
“Bitte bewahren Sie Ruhe, der StimSim-Server wird neu gestartet. Das technische Problem ist gleich behoben. Bitte bleiben Sie an ihrem Arbeitsplatz und berühren Sie keines der Werkzeuge oder Produkte. Einen Augenblick Geduld bi…”
Die Durchsage schnarrte und hängte sich auf, einige Sekunden lang stieß der Lautsprecher ein knatterndes Feedback aus, dann verstummte er ganz. Otto, am Werkplatz gegenüber, hob nur die Schultern und verdrehte die Augen.
Immerhin waren seine motorischen Funktionen wieder soweit hergestellt, dass er vom Montagetisch zurücktreten und sich umsehen konnte. Die Analograum-Warnleuchten blinkten zornig und aktivierten mit ihren Sequenzen Notfall-Engramme, die Peter daran erinnerten, was von ihm in einem solchen Fall erwartet wurde: Stillhalten, Ruhe bewahren, auf Hilfe warten.
Schlagartig wurde alles dunkel, totaler Stromausfall wahrscheinlich. Otto rief von seiner Seite des Tisches aus: “Scheiße. Was soll das? Hast du sowas schonmal erlebt?”
“Nee, noch nie. Aber lass das mal nicht unsere Sorge sein, das liegt weit oberhalb unserer Gehaltsstufe. Warten wir einfach drauf, dass die Simulation wieder anfängt.”
Kurz darauf flackerte die Notbeleuchtung zum Leben und tauchte die Umgebung in die Art meeresblaues Glimmen, die Psychosensorik-Experten als besonders beruhigend ausgemacht hatten. Die meisten Menschen erkannten den Farbton mittlerweile und ahnten ganz instinktiv, was er eigentlich mitteilte: “Du sitzt ganz schön in der Kacke, Freundchen.”, woraufhin sie mit dem der Erwartung gegenteiligen Impuls reagierten.
Bei Otto führte das zu noch mehr Fluchen: “Scheißkackedrecksmist! Ich war grad so schön drin! Weißt du, ob wir noch bezahlt werden?”
“Keine Ahnung. Hast du denn die AGBs gelesen?”
“Ach, halt‘s Maul.”
Peter schlurfte ein wenig hierhin und dorthin, um seine Beinmuskulatur und Durchblutung wieder in die Gänge zu bekommen. Zu Anfang der Schicht schob man sich Nährstoffsticks unter die Zunge, die das Thromboserisiko um den Faktor Tausend reduzierten. Angenehmer wurde das ewige Stehen dadurch aber auch nicht.
Wahrscheinlich war im gesamten Gebäude die Energie ausgefallen, eventuell sogar in der ganzen Fabrik. Das konnte ja heiter werden.
“Warst du schonmal bei so einem Blackout dabei?”, fragte er Otto.
“Machst du Witze? Noch nie! Soweit ich weiß, sind alle kritischen Systeme redundant, Notreserven für das Aktivieren der Notreserven und so weiter. Es sollte immer so viel Saft in den Speicherbänken sein, dass die Fabrikatoren und Roboter sauber runtergefahren werden. So einen kalten Shutdown dürfte es gar nicht geben. Schon das Hochfahren aller Systeme aus diesem Zustand muss Tage verschlingen.”
Doch Peters Aufmerksamkeitsspanne war bei solchen Erklärungen schnell überschritten, weshalb er längst wieder nach vorn gebeugt über dem Montagetisch stand und die Früchte seiner Arbeit begutachtete.
“Hast du auch nur den leisesten Schimmer, was wir hier eigentlich bauen?”, fragte er seinen Kollegen, doch der schnaufte nur verächtlich.
“Kein Plan, Mann. Will ich auch gar nicht wissen, wir könnten es uns sowieso nicht leisten.”
Ein wenig verächtlich betrachtete er die Elektronikteile. Offenbar hatte er kleine Baugruppen auf Platinen gelötet. Warum ließen sie sowas von Drohnenarbeitern erledigen und nicht von Robotern?
“Sieht aus, als wäre das wieder eine Charge, bei der es sich nicht lohnt, erst Technik dafür umzurüsten. Zu kleiner Markt oder so.”, entschied Otto, der sich ebenfalls ansah, was sie da herstellten. “Aber immer gibt es jemanden, der die Steuersoftware schreibt, damit die Arbeiter über ihr Implantat die richtigen Befehle bekommen. Schon irre.”
Peter fiel auf, dass er keine Ahnung hatte, wie viel Geld seine Arbeit die Firma kostete. Im Zweifel basierten derartige Entscheidungen wohl auf Gewinnmargen im Promillebereich. Und ferngesteuerte Arbeiter, die in der Zwischenzeit in virtuellen Simulationen träumten, waren verdammt billig, weil man ihnen die Simulation vom Lohn abziehen konnte.
Ein feines Surren in der Luft deutete an, dass sich irgendetwas am Status der Maschinen änderte. Das Licht schaltete sich wieder ein und blendete Peter, der versuchte, seine Sicht freizuzwinkern.
Er stand am Rand der Bühne, war ein paar Meter vor die Stühle und Instrumente geshiftet. Wahrscheinlich war die Synchronisierung mit dem StimSim-Server vor dem Blackout nicht abgeschlossen. Unsicher sah er sich um und versuchte, Referenzpunkte zu erkennen und zu entscheiden, ob er sich der Simulation wieder anvertrauen könnte. Otto hatte es offenbar noch nicht wieder in den virtuellen Konzertsaal geschafft.
Nochmal zurückzustürzen wäre zum Kotzen. Die Immersion in die Scheinrealität war eine komplexe Nervenleistung, anstrengend und daher ärgerlich, wenn man sie schlagartig wieder verlor. Irgendwie glaubte Peter nicht, dass das auf Dauer gut für sein Gehirn sein konnte.
Sollte er jetzt nach Otto suchen und die Situation besprechen? Wahrscheinlich würden die StimSim-Controller des Konzerns schon Anweisungen einspeisen lassen, wenn es etwas zu beachten gäbe.
Als er an sich herabblickte, sah er, dass er noch immer die Arbeitsmontur inklusive Handschuhen trug. Vorsichtig tastete er an seinem Gesicht entlang und fand die Ränder der Atemmaske. Also doch noch kein Normalbetrieb.
Dann bildeten sich seltsame Schlieren in der Luft, die Umgebung begann zu zerrinnen wie ein mit Wachsmalstiften gezeichnetes Bild im Heißluftofen. Zäh troff die virtuelle Realität nach unten, zerpixelte oder zervoxelte – so genau kannte Peter sich da nicht aus – und löste sich schließlich ganz auf. Ein atemberaubender Spezialeffekt. Doch mit welchem Zweck?
Eine Sekunde lang schwebte er in undefiniertem Raum. Unendlich in seiner Leere, ohne Wände oder andere Begrenzungen. Dann baute sich eine neue Ansicht auf, ergoss sich in einem ähnlichen Muster von oben nach unten, so wie sich zuvor die Umgebung aufgelöst hatte.
Nun stand er in einer Art Fabrikhalle, ein sauberer Bau, frisch gestrichen, ohne Makel. Die Beleuchtung des Raumes war dem Notlicht in der Montagezelle nachempfunden. Was sollte das? Gab es jetzt doch Instruktionen von der Firma? Aber wieso nicht einfach direkt projizieren? Das alles ergab wenig Sinn.
“Arbeiter, dies ist eine Befreiungsaktion der Gemeinschaft Rosengarten, verhalte dich ruhig, es sind bereits Genossen unterwegs, um dich aus dem System der Unterdrücker zu lösen. Wenn du Fragen hast, kannst du dich direkt an unseren virtuelle Genossen wenden, der dich über alle kritischen Informationen aufklären wird. Wir kämpfen für dich, Arbeiter, also leiste keinen Widerstand gegen Rettungsmaßnahmen. Wer sich mit dem Ausbeuter solidarisiert, kann nicht mitgenommen werden.”
“Was soll die Scheiße?”, brüllte Peter in die Halle. Er wollte doch nur zurück in seine StimSim. Konnte das denn zu viel verlangt sein?
Überhaupt – wo war dieser versprochene Ansprechpartner? Musste der nicht irgendeinen Avatar oder zumindest Sprite bekommen, um hier sichtbar und ansprechbar zu sein? Gemeinschaft Rosengarten, die konnten ihn alle mal am Arsch …
“Bitte hab nur noch einen Augenblick Geduld, Arbeiter. Das Befreiungskommando ist schon auf dem Weg zu dir. Aufgrund der Größe der Anlage und der schieren Zahl der zu entknechtenden Menschen kann es zu leichten Verzögerungen kommen.”
Sauber programmiert, sagte sich Peter und drehte sich um. Der Körper des Sprechers war einfach hinter ihm materialisiert. Aber was konnte man von einem Haufen anarchistischer Spinner schon erwarten?
“Ich bin hier, um deine Fragen zu beantworten.”, beharrte der Avatar, ein geschlechtsloses jugendliches Wesen. Über seine langen haselnussbraunen Haaren war ein bäuerliches Kopftuch gezogen. Das Gesicht, sommersprossig und weich geformt, blickte ihn ohne Scheu von unten her an.
“Kann ich nicht einfach zurück?”
“Das ist derzeit nicht möglich. Die Simulationen wurden abgeschaltet, damit die zu Befreienden Gelegenheit erhalten, sich mit der Situation vertraut zu machen und ihre Optionen zu überdenken.”
“Ach leck mich doch.” Das Letzte, was er tun wollte, war seine Optionen zu bedenken. Selbst diesen Idioten musste klar sein, dass er nicht zum Spaß hier war. Er stöhnte und warf theatralisch die Arme nach oben. “Virtuelle Umgebung beenden. Ich hab zu arbeiten.”
“Das ist leider im Moment nicht möglich.”
“Das heißt, du hältst mich hier gefangen? Das ist gegen meine Grundrechte! Ich kenne die Regeln genau: Niemand darf gegen seinen Willen zum Aufenthalt in einer StimSim gezwungen werden. Oder bin ich verhaftet? Dann würde ich ja mal gern deine Dienst-ID sehen.”
Das Wesen offenbarte eine einprogrammierte Emotionspalette, als es auf die Frage nur mit einem verächtlichen Stöhnen und – ganz Teenager – einem perfekt ausgeführten Augenrollen reagierte.
Dann ließ sie sich doch zu einer Antwort herab: “Hör mal, du kannst hier im Moment nicht weg, was wirklich zu deinem Besten ist. Wir können nicht riskieren, dass auf einmal hundert von der Drohnenkontrolle abgehängte Arbeiter durch die Fabrik irren. Bis ihr euch orientiert habt, wärt ihr in Gefahr. Unser Befreiungskommando rückt vor und setzt den Werkschutz außer Gefecht. Diese Maßnahme – so unangenehm sie dir zweifellos erscheint – dient nur deinem Schutz. Und wo du einmal hier festsitzt, könntest du dir doch zumindest anhören, warum wir dich aus dieser Fabrik herausholen wollen.”
“Schwall nicht lang herum. Ich will nicht befreit werden. Also lass mich.”
In demonstrativer Bockigkeit setzte sich Peter in den Schneidersitz und lehnte den Rücken gegen einen der Pfeiler.
“Was hast du vorhin in der StimSim gespielt? Survival-Szenarios sind derzeit sehr beliebt. Oder war es ein Action-Abenteuer? Pornographie?”
“Was soll die Frage? Sollst du mich mit dem Versprechen locken, so etwas in der Realität zu erleben? Was für Argumente hat man dir programmiert? Fragst du danach, ob ich mir das, was ich in der Fabrik baue, leisten kann? Oder geht es um Selbstbestimmung? Wie gemein es ist, dem Drohnenarbeiter selbst fundamentale Bildung vorzuenthalten, weil er die Programmierung für den nächsten Montageschritt direkt ins Rückenmarksimplantat eingeimpft bekommt? Mangelnde gesellschaftliche Teilhabe? Oder doch gute alte Unterdrückung? Weil wir nicht freiwillig als Drohnen arbeiten, sondern durch das Produktivitätspflichtgesetz gezwungen werden?”
Die VI schwieg eine Weile. Der jugendliche Avatar hielt dabei gänzlich still. Es gab keine Übersprunghandlung, die ihm das Warten erträglicher machen sollte – kein Stirnrunzeln, Zwinkern oder auf der Lippe Kauen. Die Abwesenheit solch winziger Gesten ließen ihn wesentlich unmenschlicher aussehen, als selbst eine Monsterfratze mit elf Augen es vermocht hätte.
“Du erscheinst mir in fundamentalen Fragen deutlich weiter als der durchschnittliche Arbeiter, auf den mein Design zugeschnitten wurde. Ich gratuliere dir dazu. Wenn du aber schon so viel Einsicht gewonnen hast, wieso willst du dieser exploitativen Situation und der Pflicht zur Arbeit nicht entrinnen? Denkst du, dass du Führung brauchst, weil du selbst so wenig wert bist?”
“Bescheuerte Idee, einer virtuellen Intelligenz so viel Arroganz mitzugeben. Wer ist für deine Programmierung verantwortlich? Pfft. Denkt euer Gärtnerclub, dass ihr irgendwen überzeugt, wenn ihr ihm vorhaltet, wie dumm sein Verhalten ist? Kein Wunder, dass ihr seit so vielen Jahrzehnten nichts mehr geschissen bekommt.”
Selbstverständlich waren Vorwürfe nicht geeignet, um eine VI zum Umdenken zu bewegen. In der Regel blieben diese Konstrukte in wesentlichen Intelligenzfunktionen sehr beschränkt. Kreatives Hinterfragen der eigenen Position und Adaptation zur Vermeidung kognitiver Dissonanz? Das war High-KI-Shit und seit dem nuklearen Schrecken von Suez weltweit verboten. Ausgeschlossen, dass diese Pseudokommunisten solche Mittel hatten.
Peter seufzte. Er hatte nicht genug Geduld, um einfach in der Simulation abzuwarten, bis in der Realwelt irgendetwas passierte, was ihn aus der Situation befreite. “Gemeinschaft Heckenrose. Okay, was seid ihr? Kommunisten? Trotzki? Der ganz alte Scheiß? Oder was Moderneres? Cybersyndikalismus? Wollt ihr mich an der Vermarktung meiner Arbeitskraft beteiligen? Oder haltet ihr euch für irgendeine wahnsinnig originelle Variante von libertär? Befreit ihr mich, um mich zur Selbstausbeutung zu ermächtigen? Oh, ich weiß schon – ich lehne Marx nur deswegen ab, weil ich ihn nicht selbst gelesen habe, sondern nur das, was andere über ihn geschrieben haben. Stimmts?”
“Für ideologiephilosophische Gespräche stehe ich nicht zur Verfügung.”, beschied die VI.
“Was kannst du dann überhaupt? Als Gesprächspartner bist du auf jeden Fall nicht besonders viel wert.”
“Bitte bereitmachen für Notaustritt aus StimSim.”
“Hä?”
“Austritt in 5, 4, 3, 2 …”
Der Übergangsschock war diesmal noch brutaler, weil Peter auf dem Rücken lag. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte er nach Luft, während sein Gleichgewichtssinn sich bemühte, der neuen Realität zu folgen. Die Kopfschmerzen waren anders als beim letzten Mal, fühlten sich körperlicher und lokalisierter an, strömten aus seinem Hinterkopf um den Schädel herum.
Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, die Plastikriemen schnitten scharf ins Fleisch und verhinderten fürs erste, dass er sich wieder aufrichten konnte.
In sein Augenfeld schob sich das Gesicht eines jungen Menschen, auffällig androgyn, blau gefärbte Haare mit einseitigem Undercut. Die kurz rasierten Stoppeln ragten aus einem glitzernden Metallnetz.
“Hallo, ich bin Alex. Halt bitte einen Moment still.” Dann machte sich der Fremde an einem Tablet zu schaffen. Er war von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet. Es gab keine erkennbare Panzerung oder taktische Ausrüstung. Offenbar verließ er sich komplett auf seine Fähigkeiten als Hacker.
Peter hatte ihn nicht gleich erkannt, doch die Stimme war unverkennbar gewesen. Das war eindeutig die menschliche Vorlage für den virtuellen Avatar, der zu ihm gesprochen hatte.
“Was wird das?”, fragte Peter.
“Drohnenbefreiung. Das wurde dir doch erklärt. Wir nehmen zur Kenntnis, dass du nicht mitkommen möchtest. Das müssen wir respektieren. Dein Kollege allerdings hat anders entschieden.”
Peter wand sich auf dem Boden, um einen Blick auf den restlichen Raum zu erhalten. Tatsächlich! Otto lehnte auf der anderen Seite am Montagetisch und bekam von einer weiteren schwarzgekleideten Fremden eine Kragenmanschette umgelegt. Fetzen ihres Gesprächs rollten zu Peter herüber: “… blockiert den Spinal-Link … Notfall keine Drohnensteuerung … unbedingt abnehmen”.
Hatte sich sein Kollege breitschlagen lassen? Der Mann, mit dem er schon hunderte Stunden in der Montage und virtuellen Spielen verbracht hatte? In dem er gerade erst zaghafte musikalische Begeisterung gesät hatte? Otto und diese roten Spinner? Was hatten sie ihm geboten? Womit gedroht?
Durch den Eingang zum Montageraum kam ein dritter Eindringling herein. Er raunte: “Draußen alles ruhig.” und kam dann näher zu Peter, beugte sich über ihn.
Das Gesicht des Fremden glitzerte von spinnennetzartigen Tatplants. Die implantierten Metall-Kohlenstofffäden konnten verschiedene visuelle Effekte erzeugen, waren aber im Moment nicht aktiv. Ansonsten trug er ein Allerweltsgesicht, natürlich glatt rasiert, mit einer Billigfrisur ohne Lizenzierung. Das Alter des Mannes war schwierig zu bestimmen. Die allgegenwärtigen kosmetischen Korrekturen und Anti-Aging-Wunder hatten Peters Fähigkeit, seine Gegenüber korrekt einzuschätzen, sowieso nachhaltig gestört. Bis auf einen Rucksack und eine Gürteltasche war er auch bemerkenswert leicht gerüstet.
“Ruhig bleiben. Wenn du friedlich bist, gibt es keinen Grund für uns, zu irgendeiner Handlung zu greifen, die mit deinen Rechten kollidiert.”
“Das Recht, nicht von ein paar Pissern gefesselt und auf den Boden geworfen zu werden, hast du dabei wohl vergessen?”, keifte Peter.
“Ja, Sorry, Mann, wir haben jetzt keine Zeit, mit dir zu zanken.”
Entschlossen, dem Werkschutz Informationen über den Überfall zu liefern, musterte Peter die fremden Gesichter und bemühte sich, möglichst viele Eindrücke zu speichern. Sein Implantat war offenbar ausgeschaltet, sodass er keine Pics oder Vids aufnehmen konnte – nein, er würde sein eigenes Gedächtnis bemühen müssen, eine archaische Herausforderung.
“Ey, das ist ein Reinraum!”, hörte er sich in einem Anflug empörter Dienstbeflissenheit rufen. “Da könnte ihr nicht einfach so alles antatschen. Es dauert Stunden, das wieder zu sterilisieren, ihr zerstört Firmeneigentum, ihr Zecken!”
Zumindest hatte er den Eindringlingen auf diese Weise ein entnervtes Stöhnen entlockt. Er rappelte sich vorsichtig auf und schien damit keinen Widerspruch der Fremden zu erregen. Probehalber zog er ein wenig an den Fesseln. Null Chance.
Plötzlich drehten die Fremden gleichzeitig den Kopf, wahrscheinlich gewarnt von einem Überwachungsprogramm. Alex huschte nach draußen. Aus dem Nebenraum ertönten hektische Schritte, ein stumpfer Aufschrei und schließlich das zischende “Plopp” eines Hochdrucktasers. Kurze Stille und danach ein hallendes Donnern, ein Schlag auf die Trommelfelle, der Peter zusammenzucken ließ.
In die beiden zurückgebliebenen Drohnenbefreier kam Bewegung, beide zogen fast synchron einen schwarzen Quader aus ihrer Gürteltasche und klappten ihn mit geübten Handgriffen auseinander. Rasch hielten sie eine Art Pistole, sogar mit Mini-Zielsucher über dem Lauf, in der Hand.
“Ihr seid bewaffnet? Ihr dummen Arschlöcher! Jetzt habt ihr nicht nur die Werksicherheit, sondern auch die Bullen am Arsch!”, schrie Peter. Auch Otto war geschockt und tappte mit erhobenen Händen vom Konstruktionstisch zurück.
“Hey, hey, so war das nicht ausgemacht.”, erklärte er, vage in Richtung der Feuerwaffen deutend.
Der männliche Eindringling legte den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete den beiden Arbeitern mit der Waffe, sich in eine Ecke des Raumes zu kauern. Er selbst bezog neben seiner Genossin an der Tür Stellung. Sie spähten gleichzeitig hindurch, Pistole im Anschlag.
Doch Alex kam schon zurück. Peter bemerkte die gekrümmte Haltung, die Blutstropfen auf dem Boden und konnte seinem engrammatisch einprogrammierten Sauberkeitsreflex immer noch nicht entkommen. Zumindest biss er sich auf die Zunge, um nicht “Hey, du Sau! Das putzt du nachher schön selber weg!” zu schreien.
Für eine endlos wirkende Sekunde erstarrten die beiden Drohnenbefreier, offenbar überwältigt von der veränderten Situation. Schließlich rief der Erste: “Hast du ihn erwischt? Wirst du verfolgt?”, während er seinen zusammensinkenden Kameraden auffing und sitzend an die Wand lehnte.
“Der geht nirgendwo mehr hin.”, meinte Otto fachmännisch und ohne die Spur einer Ahnung.
Der weibliche Eindringling erklärte: “Er hat Recht, Sanni. In diesem Zustand hält xier uns nur auf. Aber hierlassen können wir xien auch nicht.” Die Frau drehte sich zu Otto und bemerkte: “Alex ist nonbinär. Das Pronomen ist xier.”
Der als Sanni Angesprochene sagte: “Scheiße. Wie weit sind die anderen?”
“Die sind schon wieder auf dem Weg nach draußen. Zurück ist nicht, das war abgemacht.”
Weitere sich noch steigernde Flüche ausstoßend, stampfte der Drohnenretter durch den Raum. Er fegte ein paar der noch nicht fertig montierten Geräte vom Tisch, dann ruckte sein Kopf hoch und in seinen Augen spiegelte sich eine Idee.
“Die beiden sollen xien tragen. Ob sie sich uns danach anschließen oder nicht, ist ihnen überlassen, aber bis wir in Sicherheit sind, muss jemand Alex hier rausbringen.”
Otto schien nicht begeistert, aber auch nicht abgestoßen. Kritisch blickte er auf die verletzte Person, an der sich die Zweite mittlerweile zu schaffen machte, um die Blutung zu stillen. Ihre Ausrüstung umfasste auch eine in die Wunde injizierbare Kompresse, die das Heraussickern des Lebenssaftes sofort unterband. Alex wirkte dennoch immer schwächer, mit grauem Gesicht, teilnahmslos an der Wand lehnend.
“Dein Name ist Peter, richtig?”, fragte der Erste. “Also. Du kommst mit. Ich schneide dir die Fesseln durch. Keine Widerworte, sonst müssen wir ungemütlich werden.” Er schüttelte die faltbare Pistole vor Peters Gesicht. “Du hast gehört, was wir ausgemacht haben: Ihr beide helft, unseren Genossen nach draußen zu bringen, dann könnt ihr tun, was ihr wollt. Ich bin Sanni, die heißt Chekov und xier da mit dem ganzen Blut ist Alex.”

Eine halbe Stunde später hatten sie den Manufakturkomplex verlassen. Ohne die Augen der Überwachungseinrichtungen war der Werkschutz beinahe blind und musste die Gebäude Stück für Stück durchkämmen. Sanni zeichnete sich im Umgehen der Wachleute aus, auch wenn Peter vermutete, dass er von seiner VI über ihre Bewegungen unterrichtet wurde.
“So. Jetzt seid ihr draußen. Darf ich bitte gehen?”, bettelte er, als sie den letzten Zaun passierten, in den Chekov mit einer Thermolanze kurzerhand ein Loch gebrannt hatte. Glasierte Metalltropfen kullerten den Betonabhang herunter, an Peter und Otto vorbei, die sich abmühten, ihre verletzte Fracht sorgsam nach unten zu bugsieren.
Medizinische Ausrüstung war Mangelware, offenbar hatten die Drohnenbefreier nur mit minimalem Widerstand gerechnet. Deswegen mussten sie sich bei der Einschätzung von Alex‘ Zustand auf Äußerlichkeiten verlassen. Niemand von ihnen wusste, wie man einen Puls maß. Er trug auch keinen implantierten Biomonitor.
“Wir müssen Alex hier schnell rausbringen. Xier sieht nicht gut aus.”, bemerkte Chekov.
“Bravo!”, dachte Peter, hütete sich aber, bissige Kommentare abzugeben. Die Aktion hatte professionell genug gewirkt, aber er hatte keine Ahnung, was das für seine Überlebenschancen bedeutete. Machten sie kurzen Prozess, wenn er ihnen zur Last fiel? Gab es die versprochene Freilassung nur als Belohnung für stillschweigende Kooperation?
“Wir sind zu spät.”, stellte Sanni fest. Sie hockten neben der Straße und betrachteten missmutig einige Reinigungsroboter, die nun nutzlos auf der Fahrbahn saßen. Der Shutdown des Netzes musste verdammt aufwändig sein, wenn er sogar die umgebende Robotersteuerung betraf. Licht war an, also kein elektrischer Totalausfall. Trotzdem dürfte allein das Reintegrieren der ausgefallenen Steuerungszellen riesige Summen verschlingen. All das für ein paar Drohnen?
“Hier sieht es aus wie die Sau.”, brummte Otto. Tatsächlich wirkte die Straße, als sei sie seit Wochen nicht mehr gereinigt worden. Wo waren sie gelandet?
Chekov unterbrach den Gedanken, indem sie sagte: “Habe Nachricht, dass wir weitermüssen. Unser Taxi traut sich nicht mehr so nah an den Komplex. Ihr beiden, ihr müsst nochmal ran. Alex ist noch nicht in Sicherheit.”
“Scheiße ey, so langsam habe ich keinen Bock mehr.”, platzte es aus Peter heraus. “Hättet ihr nicht irgendwen mitnehmen können, der bei euren Spielchen auch mitmachen will?”
“Schau dir das mal genau an. Da, auf deinen Fingern. Das ist Blut. Das Blut eines Genossen. Für deine Befreiung im Kampf verwundet, du Ignorant. Zeig ein bisschen menschlichen Respekt und hilf uns, xien hier rauszubringen.”
“Und wenn nicht?”
“Du bist so ein Arsch! Sollen wir dich weiter bedrohen?”, schimpfte Chekov. “Nein, Freundchen, so läuft das nicht. Wir sind alle füreinander verantwortlich. Alex braucht deine Hilfe. Ein lebendes Wesen! Nicht so ein Voxelbrei wie in den StimSim-Abenteuern. Warm, atmend, voller Liebe und Zorn und echter Gedanken. Wenn du dich jetzt weigerst, hast du einen Menschen auf dem Gewissen!”
Sanni legte mit einer beschwichtigenden Geste eine Hand auf Chekovs Schulter und sagte: “Wir wechseln uns ab, dann wird es nicht so schwer. Drei Kilometer bis zum Taxi. Schaffst du das oder ist Alex zu schwer für dich?”
Bei seiner Männlichkeit gepackt, konnte Peter keine Ausflüchte mehr produzieren und hob die Schultern in einer Geste resignierter Zustimmung.
Sie brachen auf. Sanni sagte: “Haltet die Augen auf. Ihr solltet Überwachungsstationen und Sicherheitsschleusen erkennen können. Eure Filter sind mit Ausschalten des Spinal-Links allesamt deaktiviert worden.”
“Filter?” fragten die beiden mehr oder weniger freiwillig Befreiten gleichzeitig.
“Meinst du sowas wie einen Blocker? Der macht doch eh nur Sinn, wenn wir einen Vis-Stream empfangen.”, fragte Peter.
“Quatsch. Es geht nicht um Werbeeinblendungen. Es geht um Zensur. Der Stream gibt dir nicht nur Input, sondern blendet auch Dinge aus, die du nicht sehen sollst.”
“Schwachsinn. Wie soll das denn gehen?”
“Wie funktioniert Sehen?”
“Ach komm, jetzt keine Schulstunde hier, bitte.”
Der Drohnenbefreier schnaufte herablassend. “Keine Sorge. Ich weiß, dass du nur minimale Bildung genossen hast. Ich fasse mich kurz.”
“Du liegst falsch. Ich habe ein Studium … als Musiker. Dafür bezahlt mich nur keiner mehr.”
“Noch besser. Oberklasse-Beruf erlernt, den Massengeschmack verfehlt, dann Zwangsarbeit. Bravo.”
Beinahe hätte er Alex auf den Boden fallen lassen. Seine Hände verkrampften sich im Stoff des Hoodies, den der Verletze trug. “Komm zurück zum Thema. Was soll das mit den Filtern?”
Sie hatten die Peripherie der Manufaktur verlassen und bogen auf eine Zufahrtsstraße zu einer Wohngegend ein. Die Pylonen der Verkehrsleitstruktur zeigten mit Notfallbeleuchtung den Ausfall der autonomen Fahrsteuerung an. Jetzt hätten nur Piloten mit einer Lizenz selbstständig weiterfahren dürfen, alle anderen mussten warten. Peter würde in der Bahn feststecken, wie die überwiegende Mehrheit der restlichen Verkehrsteilnehmer. Im Augenblick gab es praktisch keine Fahrzeuge auf der Straße. Die öffentlichen Bahnshuttles wären leer. Typisch Nachtschicht.
“Komm, wir tauschen.”, bot Sanni an.
“Schaffst du es, zu tragen und zu reden?”, fragte Peter. Er bemühte sich, seiner Stimme einen gönnerhaften Klang zu geben, aber durch die Last kamen die Worte nur schnaufend heraus. Er war froh, abgeben zu können. Otto ließ sich von Chekov ablösen, die mit der Zunge zum Weiterlaufen schnalzte.
“Na gut.”, fuhr Sanni fort. “Was du siehst, ist eine Mischung der Informationen deines optischen Nervs und der Überblendungen, die du über den Stream erhältst. Aber diese Überblendungen können nicht nur Dinge hinzufügen wie Werbung für Labgrown-Steaks oder Dicky Mouse mit einem Mate-Shake, sondern auch Realitäten entfernen. Frag mich nicht genau, wie das klappt.”
“Nein, frag mich.”, warf Chekov keuchend ein. “Im Grunde siehst du sowieso nur einen winzigen Teil dessen, was dein Auge erfasst, scharf. Deine Wahrnehmung fokussiert sich auf Bildbestandteile – jede Sekunde etliche davon hintereinander. Das liefert dir optische Informationen. Dein Gehirn kann nicht das gesamte Bild erfassen, sondern stellt eine Art Vorauswahl zusammen. Du kannst dich natürlich auch bewusst auf eine Sache konzentrieren. Das ergibt eine Art Gemisch aus unbewusster, peripherer und fokussierter Wahrnehmung. Aber der Stream kann auch Marker setzen, die dafür sorgen, dass Bildinhalte an deinem Bewusstsein vorbeigeschleust werden.”
“Was?”, fragte Otto. “Was heißt das auf Deutsch?”
“Der Stream editiert, was du zu sehen bekommst. Zwar ist es noch da, aber dein Gehirn kann sich nicht darauf konzentrieren. Deswegen bleibt es für dein Bewusstsein versteckt.”
Auf der Straße des Wohnviertels waren einige Menschen unterwegs, entweder späte Partygänger, Nachteulen oder Schlafwandler. Sie wirkten verwirrt, tappten ziellos umher oder begafften ihre Umgebung, als hätten sie Bordstein, analoge Werbetafeln oder die Fußgängerbrücken zum ersten Mal gesehen. Die Wabenwohnungen über ihnen lagen größtenteils im Dunkeln, nur aus einer Handvoll Fenstern flackerte das Licht von Kerzen. Kluge Bewohner, die für Notfälle vorgesorgt hatten oder aus romantischen Anwürfen heraus eine echte Flamme ihrer hunderttausendfach sichereren Streamingform vorzogen.
Sanni sagte: “Kannst du ihr ruhig glauben. Chekov hier hat Neuropsychologie studiert.”
Otto schüttelte den Kopf, streckte sich und ließ die Schulterblätter knacken. “Prima. Eine Frau Kopfdoktor. Aber der Stream ist doch digital. Wie soll das funktionieren?”
“Dissoziation und Verdrängung. Das würde jetzt zu weit führen, aber unser Gehirn ist eben prima im Sortieren in Wichtig und Unwichtig und hat darüber hinaus noch einige Mechanismen, um verstörende Inhalte auszublenden. Der Filter gibt deinem Unterbewusstsein nur einen kleinen Schubs in die richtige Richtung und schon siehst du manche Dinge nicht mehr.”
“Zum Beispiel?”, fragte Peter.
“Übernimm mal.”, sagte Sanni und ließ den Verletzen in seine Hände gleiten. Die Atmung von Alex ging mittlerweile sehr flach, die Lider flatterten. Es war kaum damit zu rechnen, dass xier es schaffte, aber die beiden Revolutionsromantiker gingen in ihrer Rolle als Lehrer zu sehr auf, um es zu bemerken. Jetzt wurde Peter auch klar, woher er Alex Gesicht kannte: Xier hatte für die VI Pate gestanden. Viel zu jung, viel zu verletzlich. Rote Sommersprossen durchflochten von Blutspritzern.
“Hier. Siehst du das?”, fragte Sanni und klopfte an eine Halbkugel aus metallischem Glas, die aus der Wand wuchs. “Das ist eine Überwachungskamera. Die scannt Gesichter, achtet darauf, dass sich niemand im Viertel aufhält, der nicht hergehört, beobachtet Verbrechen und macht Meldung über verdächtige Geschehnisse. Könnte auch uns verpfeifen, wenn sie grad Strom hätte.”
“Ja, und? Halt. Meinst du, normalerweise würde der Filter …”
“Genau!”
“Na super. Der Stream versteckt also kritische Technik. Wahrscheinlich schützen sie so öffentliche Infrastruktur. Keine blöde Idee. Gibt ja genug Vandalismus.”
“Warum willst du das nicht begreifen?”, ereiferte sich Sanni. “Warts ab. Wir sind schon auf dem richtigen Weg, damit du es siehst.”
Er führte die kleine Gruppe auf eine Nebenstraße und von dort in ein Parkhaus. In einer Nische hinter einem Pulk Autoshuttles saßen einige verwahrloste Gestalten. Verfilzte graue Haare, zerlumpte Kleidung. Ein widerlicher Geruch nach altem Käse, abgestandenem Urin und ekelhafter vergorener Menschlichkeit umströmte die Truppe.
“Da. Penner. Obdachlose. Mitten unter euch. Menschen, die einen Steinwurf von leeren Waben hocken und nicht hineindürfen, weil sie der Gesellschaft nicht schmecken. Ausgespuckt wie eine bittere Kirsche.”
Peter war sprachlos. Entsetzt ließ er Alex zu Boden gleiten und wischte sich über die Augen.
“Aber das gibt es doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Heute findet doch jeder eine Arbeit … die Drohnenfabriken …”
“… nehmen auch niemanden auf, der zu krank oder kaputt ist. Abstoßungsreaktionen, Infektionen, Drogenmissbrauch, Menschen, die die Immunsuppression für die Implantate nicht überstehen würden, psychisch Gestörte, wirtschaftliche Totalausfälle. Wer sich nicht verwerten lässt, hat selbst keinen Wert.”
“Ach komm, diese billigen Phrasen.”
Otto zog eine Augenbraue hoch und sah Peter kritisch an. “Dachtest du wirklich, dass es das nicht gibt? Wir haben Glück, würde ich sagen. Eigentlich können wir dankbar für die Manufaktur sein. Sie gibt uns Arbeit.”
“Besser als das da auf jeden Fall.”
Zum ersten Mal wurde Sanni laut. Seine Stimme hallte durch das Parkdeck, als er schrie: “Das da sind immer noch Menschen!”
“Scheiße, du hast ja Recht. Aber würdest du so enden wollen?” Die Obdachlosen senkten den Kopf und taten, als seien sie nicht da.
“Nein, verdammt nochmal. Aber wer garantiert dir denn, dass du es nicht tust? Du bist nur eine Leitersprosse davon entfernt! Vergiss die Arbeitspflicht, die ist nur dazu da, dich zur Implantation zu zwingen. Wenn die Manufaktur keine Verwendung mehr für dich hat, wo kommst du dann hin? Denkst du, die zaubern dich weg? Machen Soylent Green aus dir? Selbst dein Kadaver hat keinen Nährwert mehr für diese Geier, wenn sie mit dir fertig sind.”
Stoisch wandte Peter sich ab. Er griff unter die Schultern des von Schüttelfrost erfassten Bündels und murmelte: “Wir müssen euren Freund zum Taxi bringen. Und dann fahrt ihr weg. Und dann kann ich in Ruhe weiterleben.”
“Das nennst du Leben? Du Streamingzombie! Du bist doch schon tot! Du Aas!” Sanni wog die Waffe in seiner Hand und ließ sie fallen. Urplötzlich sprang er vor und holte mit der Faust aus, um Peter einen Hieb zu verpassen, doch Chekov und Otto fielen ihm in den Arm. Nach kurzem Gerangel hatte er die Fassung soweit wieder gewonnen, dass er abließ und Otto Platz machte, der Alex packte und gemeinsam mit Peter weitermarschierte.
Was auch immer Sanni an weiteren Argumenten geplant hatte, ob er überhaupt noch Ideen hatte, um Peter zu überzeugen, mit seinem Wutanfall hatte er jede Chance verspielt. Er schien sich dieses Umstandes nur zu bewusst zu sein. Schweigend begleitete er die drei anderen, die sich beim Tragen des Genossen abwechselten.
Peter fielen unterwegs weitere Dinge auf, die der Filter ihm vorenthalten hatte: Herabfallender Putz an Wabenbauten, seit langer Zeit tote Alleebäume – im Stream hätte er jetzt das Rauschen ihrer Blätter und die Pracht gesunden Grüns erlebt – sowie menschliches Elend in den Schatten der großen Gebäude. Er bemühte sich, diese Eindrücke auszusperren, kalt zu werden gegen das Feuer der Empörung. Er stellte sich mit seinem Zorn über die Arroganz Sannis vor das aufkeimende Gefühl der Ungerechtigkeit.
Etwa zehn Minuten später erreichten sie die Gasse, in der das Taxi bereits wartete. Der Fahrer winkte die Gruppe heran, ohne aus dem Wagen auszusteigen und ließ die Heckklappe aufspringen. Vorsichtig bugsierten sie ihre klamme Fracht in den Laderaum. Chekov kletterte ebenfalls hinein und begann hektisch, einen Sanitätskasten aufzubauen, Elektroden an den Verletzten anzuklemmen und die Wunde zu versorgen. Trotz der Tamponage war wieder Blut herausgesickert. Die verbrannten Umrisse des Einschusslochs verströmten einen übelkeiterregenden Geruch. Nur einmal noch schaute der Aktivist nach oben, um Peter zum Abschied zuzunicken.
Dieser spürte die Dringlichkeit der Situation, brachte es aber dennoch über sich, Sanni noch einmal die Hand auf die Schulter zu legen. “Sag mal … wo bringt ihr Otto denn jetzt hin?”
“Den genauen Platz verrate ich dir nicht. Wir bauen eine Produktionsgenossenschaft auf. Eine Gemeinschaft, in der ausschließlich freie Arbeiter tätig sind. Keine Drohnen. Minimaler Netzzugriff, kein Stream, keine Filter. Wir wollen das Elend sehen, in dem wir leben und alles dafür tun, es zu beseitigen.”
“Warum ich? Wieso wolltet ihr mich befreien?”
“Wir können jeden brauchen, der mit anpacken will.”
“Was für Arbeit gäbe es denn zu tun?”
Sanni musterte ihn. In seinen Augen funkelte ein Körnchen Hoffnung.
“Alles Mögliche. Wir können natürlich keine traditionelle Landwirtschaft betreiben, aber unsere Hydroponik produziert frische Lebensmittel, wir haben Gewächshäuser und letztens konnten wir sogar ein bisschen Kesselfleisch ernten. Wir brauchen Maurer, Techniker, Propagandisten, Drohnenbefreier, Hilfskräfte … für jeden ist etwas dabei. Ehrliche Arbeit.”
Er beobachtete Peter genau, um die Wirkung seiner Worte zu erkennen. Das Körnchen Hoffnung erstarb.
“Viel Glück.”, wünschte Peter.
“Überleg es dir. Das ist deine einzige Chance. Selbstbestimmtes Leben! Mann, du bist in Ordnung, nicht auf den Kopf gefallen, du hast uns wirklich geholfen. Alex kommt durch, auch wegen dir!”
Der Stream kehrte zurück. Digitale Einblendungen informierten Peter über seinen Standort und die aktuelle Gefahrenlage. Das Gesicht seines Gegenübers wurde vom Scanner nicht erkannt. Wo sonst Informationen und das öffentliche Personenprofil angezeigt wurden, erschien eine Fehlermeldung.
“Ich gehe jetzt. Ihr solltet auch fahren. Alles Gute, Otto!”
Der Gegrüßte saß schon im Wagen und winkte hinter der Fensterscheibe.
Nachdem sie losfuhren, stand Peter noch einige Minuten erschöpft in der Gasse, dann beantwortete er knapp eine Anfrage der Manufaktur. Ein kurzer Bericht der Geschehnisse, gekürzt und zensiert, ohne die ideologischen Debatten und die Schulstunde in Stream-Manipulation. Als Rückantwort erhielt er eine Freistellung, bis die Ermittlungen vorüber wären. Dringende Befragung am nächsten Morgen.
Dann ging er heim.
In seiner Wabe angekommen ließ er sich unter der Dusche von aktueller Werbung, dem Wetterbericht und einem brandheißen Nachrichtenbeitrag über den Einbruch in der Manufaktur berieseln. Terroristen hätten wertvolle Daten gestohlen, Mitarbeiter bedroht, einen Wachmann verletzt. Der Konzernschutz habe noch kein Bekennerschreiben und ermittle in alle Richtungen.
Dann setzte er sich in seinen Sessel. Die Wabe enthielt bis auf ein Bett keine weiteren Möbel. Essen bekam er geliefert und die Toiletten- und Duschnische war allen hygienischen Bedürfnissen gewachsen. Sein kleines Leben war pflegeleicht und hinterher einfach desinfizierbar.
Bisher hatte Peter nicht gewagt, seinen Spinal Link zu überprüfen, aber ein rascher Diagnostikdurchlauf zeigte, dass alles in Ordnung war: Die Software der Drohnenbefreier war spurlos entfernt, sämtliche Funktionen wiederhergestellt. Gut so.
Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, befand er sich in einem hellen Raum. Dicke Deckenbalken vermittelten ein Gefühl gefestigter Ruhe. Seine Schritte hallten in perfekter Akustik. Vor ihm, an einen Pult gelehnt, stand seine große Liebe. Hätte ihm Sanni auch nur eine entfernte Chance darauf geboten, wäre er sofort eingestiegen. Peter hätte sich belügen lassen, wäre im vollen Bewusstsein der Unwahrheit mitgefahren in den Kolchos. Aber der Revolutionär hatte ihn völlig missverstanden. Freiheit war nicht das ultimative Bedürfnis, nach dem es ihn sehnte.
Seufzend nahm er Cello und Bogen, setzt sich und begann zu spielen.
Sie brauchten keine Musiker.

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Vielen Dank an meine Testleser und insbesondere meinen Bruder Stefan und Onno Tasler für wertvolles Feedback!

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Eine Antwort zu “Kurzgeschichte: „Erwachen“

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